»Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde« in der Schirn

Farbe und Flamme: Wer sich auf den luftigen Parcours durch die Säle der Schirn begibt, um der Casablanca Art School auf die Spur zu kommen, die sich nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft neu begründete, wird empfangen von Leichtigkeit, Präzision, freudvoll gewählten klaren Farben, Harmonie der Linien und Schwingungen. Und man glaubt ihn plötzlich selbst zu spüren, diesen Aufbruch in eine selbstbestimmte Welt, das lustvolle Erschaffen eines künstlerischen Kosmos, der in der eigenen Geschichte wurzelt. Die Casablanca Art School entwickelte eine Symbiose aus Tradition, Identität und Neuem, und diese Ausstellung macht sich zum Zeugen dieser Bewegung. Sie hat einen fast euphorisch pochenden Rhythmus, zeigt ein überschwängliches Selbstbewusstsein und auch, wie facettenreich diese Bewegung in den Alltag hinein strahlte.
Die Schule der Schönen Künste existierte in Casablanca schon während der relativ kurzen französischen Kolonialzeit (1912–1956), unterlag aber den dort praktizierten Methoden und Stilen, unterschied bei der Auswahl der Student*innen nach Geschlecht, sozialer und ethnischer Herkunft. Als dann nach der Unabhängigkeit die Casablanca Art School daraus erwuchs, machte sie Schluss mit diesen Strategien und besann sich auf ihre zahlreichen geschichtlichen und künstlerischen Fundamente, islamisch, jüdisch, mediterran, afrikanisch, amazighisch, berberisch, sie war eigentlich von Natur aus divers. Diesen künstlerischen Reichtum galt es neu zu interpretieren, in frische moderne Zusammenhänge zu stellen und sich auch politisch als Befreiung zu justieren. Von traditionellen Museen und Galerien verschmäht, ging sie mit ihrer Produktion ganz einfach auf die Straße, installierte Open Air Museen, z.B. in Rabat, organisierte 1969 programmatische Manifesto-Ausstellungen wie »Présence Plastique« auf öffentlichen Plätzen in Marrakesch und Casablanca, engagierte sich in Schulen.
Mit drei Namen verbindet sich die Gründung der Casabanca Art School, Fahrid Belkahia (1934–2014), der 1962 ihr Direktor wird, Mohamed Chabâa (1935–2013) und Mohamed Melehi (1936–2020). Wie unglaublich jung sie damals waren! Und selbstverständlich Anhänger antikolonialer Bewegungen. Und so setzt ein erstes Ausrufezeichen in der Ausstellung das Bild »Services«, das in dunklen Brauntönen eine stark stilisierte Folterszene zeigt. Belkahia malte sie 1962 als Ausdruck der Solidarität mit Algeriens brutalen Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich. Marokko blieben diese schrecklichen Geschehnisse, die damals die Welt aufrüttelten und in zwei Lager spalteten, erspart.
Im Anschluss daran zeigen die weiteren Gründungsmitglieder ihre künstlerischen Positionen und Signaturen. Mit ihnen taucht man ein in das Meer der Unabhängigkeit, strahlende Gemälde mit Pop-Art-Anmutung, Schwelgen in äußerster Abstraktion, aber auch Hinwendung zum europäischen Informel und dem US-amerikanischen abstrakten Expressionismus. Und schlussendlich auch zum Bauhaus.
Wie ein schamanischer Altar ist eine Plattform gestaltet, auf der getöpferte Vasen, Schalen und Amphoren in reduzierter Form- und Farbgebung von Abderrahman Rahoule aus den 1960er und 1970er Jahren präsentiert werden, präsidiert von einem Objekt wie ein afrikanischer Wehrturm. Neu? Traditionell? Genau an dieser Schnittstelle bewegt sich auch der aus Holz gearbeitete Entwurf für ein Hotel, halb marokkanische Burgfestung wie Quarzazate, halb Bauhaus, Wände und Innendekorationen in kühler, aber farbenprächtiger formaler Reduktion.
Teppiche, Design, Schmuck, das Verweben von Kunst, Kultur und dem Alltag: was die Ausstellung neben all den Exponaten von 22 Künstler*innen doppelt sehenswert macht, sind die filmischen und fotografischen Dokumentationen über die Casablanca Art School. Vollverschleierte Frauen laufen an Wandgemälden vorbei, man erhascht Einblicke in die Alltagswelt der 1970er und 1980er Jahre. Sieht beim Asilah Kunstfestival zu, wie sich weiße Hauswände in Leinwände verwandeln, und dieses Festival existiert bis auf den heutigen Tag! Künstler*innen malen und diskutieren mit Schülern und Studenten. Es ist ein bisschen wie politische Brigadenarbeit, und irgendwie ist sie das ja auch. Wie ansteckend und fruchtbar kann Befreiung sein, welche Quelle der Inspiration sprudelt hier auf. Fast überflüssig zu erwähnen: die Casablanca Art School und die von den Gründungsmitgliedern herausgegebene Kulturzeitschrift »Souffles« mischten sich auch politisch ein, indem sie Plakate entwarfen – z.B. gegen Pinochets chilenische Diktatur, für Fidel Castros Kuba.
Eine letzte gemeinsame Ausstellung gab es 1987 bei der Biennale in Sao Paulo. Wie wunderbar, dass die Schirn diesen vom Scheinwerferlicht des marktorientierten Kunstkanons nie so richtig erfassten marokkanischen Kosmos nun präsentiert.

Susanne Asal / Foto: Mohamed Melehi, Untitled, 1969, Öl auf Leinwand, 75 × 111 cm
© Mohamed Melehi Estate. Courtesy of private collection, Marrakech/VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Bis 13. Oktober: Fr.–So., 10–19 Uhr; Mi., Do., 10–22 Uhr
www.schirn.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert