Deutsches Romantik-Museum würdigt Ottilie von Goethe mit »Mut zum Chaos«

Sie gehört wohl nicht zu den Liebschaften Johann Wolfgang von Goethes. Gleichwohl war die Frau, der das Deutsche Hochstift im Romantik-Museum jetzt die Ausstellung »Mut zum Chaos« widmet, mehr als nur eine enge Vertraute und Mitarbeiterin seiner späten Jahre. Die Erwartung aber, im rororo-Büchlein »Frauen um Goethe« (Astrid Seele) auch etwas über Ottilie von Goethe, geborene Freiin von Pogwisch erfahren zu können, schlägt fehl. Nicht einmal im Namensregister dort findet die »allerliebste« Schwiegertochter des Meisters einen Widerhall. Ganz schön merkwürdig für eine Frau, die nicht nur den Haushalt im Weimarer Frauenplan schmiss, sondern ihm auch Gesellschafterin, Übersetzerin, Mitarbeiterin – Goethe überarbeitete mit ihr die Neuauflage des Faust II – und Vertraute war.
Geht man mit Thomas Mann, der dieser 1796 geborenen Nachkommin des edlen Geschlechts der Henckel-von Donnersmarcks ein ganzes Kapitel seines Romans »Lotte in Weimar« gewidmet hat, dann hat der alte Herr die eheliche Bindung seines Sohnes August mit ihr sehr goutiert, wie für sie selbst die Nähe zu ihm, den die von der Mutter alleinerzogene nur noch »Vater« nennt, auch ein Motiv ihrer Einwilligung gewesen sein mag. Zu den Vorwürfen, denen sie später ausgesetzt war, gehört, dass sie sich mehr um den Hausherrn als um ihre Kinder oder gar um August kümmerte. Dass von Ottilie von Goethe im literarischen Deutschland so lange so wenig die Rede war – derzeit ändert sich das dramatisch – hat aber andere Gründe.
Wer die kompakt präsentierte Ausstellung im Souterrain des Mäckler-Baus im Großen Hirschgraben durchläuft, wird erfahren, dass die so gebildete wie lebenshungrige Frau nach dem Tod Augusts (1830) wie seines Vaters (1832) von der gesellschaftlichen Bildfläche verbannt wurde, weil sie sich partout nicht in die ihr zugedachte historische Rolle einer von Goethe einzupassen gedachte. Sie lebte lange in Wien und in Rom und kam erst zu ihrem Lebensende wieder nach Weimar zurück. Wie autonom, aber auch wie stark Ottilie schon zu Lebzeiten beider Goethes und erst recht in der feindlich gesinnten Umgebung hinterher war, wird nun im Romantik-Museum von der Kuratorin Francesca Fabbri mit vielen erstmals zu sehenden Dokumenten aus den Archiven belegt.
Dabei ist der Fokus ganz auf ihr geistiges Wirken gerichtet, während die schon zu ihren Lebzeiten kolportierte Aufregung um ihre Lebensführung im Hintergrund bleibt. Am Fuße der im Halbrund in die Ausstellung führenden Treppe stößt man zunächst auf einen im Drehkreis fächerartig aufgezogenen Plakatreigen mit Ottilies gezeichneten Selbstporträts. Eine Ahnung von Richard David Prechts »Wer bin ich und, wenn ja, wie viele?« stellt sich beim Blick auf Ottilie als Rittersfrau, als Kind, als Athene; als Hausmutter, Greisin und gar als Soldat mit Lippenbärtchen ein. Ein paar Jahre später, das Gedicht findet sich groß an der Wand, schreibt sie, wie sie als »Welt- und Hausfrau« abwechselnd eine Staatsministerin empfängt, dann den Waschzettel zur Seite legt um Lord Byron in die Hand zu nehmen: »in der Zwischenzeit gebe ich Eier heraus, spiele eine Haydnische Sonate und zupfe während eines ästhetischen Gesprächs als Goethische Schwiegertochter Estragon zum Essig«.
Mit ihrem Titel »Mut zum Chaos« nimmt die in sechs Abteilungen chronologisch angelegte Schau Bezug auf eine 1929 von ihr gegründete Zeitschrift »Chaos«, die – so manches Social-Media-Phänomen vorwegnehmend – alle Schranken und Beschränkungen des Schreibens im Sturm zu nehmen trachtet, seien es soziale, geografische oder solche des Geschlechts. Alle Beiträge, viele davon von Frauen, erscheinen anonym und unzensiert in der Sprache ihres Autors. Ihr Projekt habe sie »den Leuten, damit sie nicht einschlafen« vorgestellt, verrät sie ihrer Freundin Adele Schopenhauer 1829 in einer bleiernen Zeit mit dem starken Hinweis: »Und natürlich bin ich Redacteur«.
Bringt reichlich Zeit mit, denn es gibt viel zu sehen und mehr noch zu lesen: die politische Unerschrockenheit der Weimarerin, die auf Maskenbällen Flugblätter verteilt, findet ihren Ausdruck, ihr offenes Eintreten für die Göttinger Sieben, ihr sich in enger Freundschaft mit der irischen Feministin Anna Jameson und mit Sarah Austin vollziehendes Eintreten für die Frauenrechte, ihre offene Unterstützung für den irischen Freiheitskampf. Wir sehen die Liste ihrer gut zur Hälfte aus englischen Titeln bestehenden Bibliothek, aber auch in einer Vitrine den »Bonnet Blue«, ein schottisches Barrett, das sie von den britischen Carlyles erhält, mit einer Verswidmung von Thomas, dem Wilhelm-Meister-Übersetzer. Wie attraktiv und wohl auch schön Ottilie von Goethe ausgesehen und gewirkt haben mag, das verrät mehr noch als die dunkle Kreidezeichnung der 17-jährigen von Franz Heinrich Müller das von Louise Seidler gemalte Porträt der inzwischen 49 Jahre alten Frau. Eine enorme Selbstsicherheit strahlt sie aus, mit einem (viel-) wissenden Blick aus ihren großen weiten Augen.
Einen eher traurigen Höhepunkt steuert ein übler Schmähbrief ausgerechnet der Dichterin der Judenbuche, Anette von Droste-Hülshoff, zu dieser außergewöhnlichen Ausstellung bei. Das Ottilie zur gesellschaftlichen Paria erklärende Schreiben an eine Freundin ist hier unter der Hervorhebung aller Falschbehauptungen nachzulesen. Einfach krass. Gut getan, sich ganz dem intellektuellen Lebenswerk Ottilie von Goethes zu widmen.

Lorenz Gatt / Foto: Louise Seidler, Ottilie von Goethe (1796–1872), ca. 1835
© Klassik Stiftung Weimar, Museen, Foto: Sigrid Geske
Bis 6. September 2023, Mo.– So., 10–18 Uhr, Do., 10–21 Uhr
www.deutsches-romantik-museum.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert