Ein eigenes Medium gefunden: »Rue St. Denis« – Zu Brigitte Tasts Diageschichten

Brigitte Tast ist analog. Ihre Kunst ist es auch. Mit dem Medium Fotografie – bei ihr immer eine analoge Mittelformatkamera – und ihrer radikalen Subjektivität als Erzählerin und Darstellerin hat sie eine eigene mediale Form entwickelt, nennt sie selbst »Diageschichten«a. Welch ein harmloses, eingängiges Wort für außerordentliche Erfahrungen.
Ihre erste Diageschichte führte sie im Februar 1985 öffentlich vor. Mehr als 20 solcher Geschichten sind es mittlerweile geworden. Wie vielschichtig sie sind, dekonstruierte zum Beispiel im Jahr 2006 die Ausstellung »Gespiegeltes – Fotografien aus Diageschichten« im Filmmuseum Potsdam. Dort wurden erstmals Fotografien aus verschiedenen Fotogeschichten als Galerie-Prints gezeigt. Sie machten offensichtlich, dass in diesen Aufnahmen mehr steckt als die Aufgabe, eine Geschichte zu transportieren.
Brigitte Tast inszeniert Selbsterlebtes und Erdachtes mit Darstellern, verknüpft das immer wieder mit Wirklichem und mit Persönlichem – mit autobiographischen Erlebnissen, mit Wunsch- und Wachträumen, Phantasien und Transgressionen, mit realem Umfeld, mit echter Beobachtung. Mit Seele. Und mit Spiegel. Unmöglich, davon nicht berührt zu werden. Und das funktioniert auch als Buch. Exemplarisch dafür: der gerade erschienene Band »Rue St. Denis«.
Er beginnt so:
»Nicht nur diejenigen, die sich meine Geschichte ansehen,/ gehen auf eine ungewisse Reise, – sondern auch ich./ Nicht nur sie wissen nicht, was sie erwartet, – auch ich.«
Noch ist Schützenfest in Hildesheim. »Mein Fotoapparat schleicht um das Rathaus«, schreibt die Erzählerin. Sie will aufbrechen. Mit ihrer Freundin Mona. 3, 4 Tage gemeinsam in Paris. Dort »gibt es eine Straße, die mich schon immer interessierte … Rue St. Denis, fremde, lange Straße im Zick-Zack-Kurs. Und doch in Wirklichkeit nur geradeaus.«
Sexuelle Provokation dort überall. Pin-up-Püppchen in den dunklen, engen Hausfluren. Und verlegene, verklemmte Männerblicke, die daran vorbeiziehen.
»Süchtig und kleinlaut./ Verdrehte Welten./ Das Gute und das Böse in einem rasenden Karussell./ Würde ich mit dem Finger auf das Schlechte zeigen, wäre es längst vorbei.«
Wie Spioninnen wollen sie und Mona diese verbotene Welt erkunden. Im Mata-Hari-Rock. Die Fahrtzeit nach Paris im Auto kommt ihr wie Gefängniszeit vor.
Es ist Montag, Wochenanfang in Paris. »Die Stadt der Liebe ist vollgestopft mit Liebeshungrigen. Eine davon bin ich.«
Für meine Geschichten zeige ich mich herum, schreibt die Erzählerin am Mittwoch. »Meinen Körper und meine Gedanken, egal wie schwer es mir auch fällt./ Aber inzwischen weiß ich auch, wie sehr ich dies brauche./ Das ist ein Stück von mir.«
Immer wieder hat das Buch, hat die Geschichte Leerstellen. Weiße Seiten. Pause und Verharren. Wieder Anlauf nehmen. Erst wenn die Erzählerin wieder zuhause ist, fängt die Geschichte an. Wird eine Geschichte daraus.
Sie wird nie fertig.
Und Mona hat viele Namen.
Regina, Daniele, Gabi, Magda, Nele.
Aber auch Brigitte.
Die Foto-Erzählung »Rue St. Denis« veranschaulicht Brigitte Tasts Kunst geradezu prototypisch. Der Hardcover-Band gibt angemessen haptische Gestalt. Zudem spendiert das Buch 50 Seiten Anhang zu den Diageschichten und zur Arbeitsmethode, es versammelt Pressestimmen und schließt mit einem Werkverzeichnis. Das alles für einen mit 16,80 Euro sehr günstigen Preis. Es gibt auch eine limitierte und signierte Vorzugsausgabe von 15 Exemplaren mit einer analogen Original-Fotografie in Museumsqualität auf 18×13 Barytpapier als Beilage.

Alf Mayer
Brigitte Tast: Rue St. Denis. Kulleraugen – Visuelle Kommunikation Band 56. Herausgegeben von Hans-Jürgen Tast. Kulleraugen Verlag, Schellerten 2023. Hardcover, 168 S., 109 S/W-Fotos, 16,60 €.

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