Ein Ritterroman? Im Jahr 2024? Echt? Jahrhunderte in den Archiven verschollen, jetzt erst aufgetaucht, das ist der Artusritter Ségurant. Über 700 Jahre wussten wir nichts von diesem Kämpfer, bis der junge italienisch-französische Wissenschaftler Emanuele Arioli (Jahrgang 1988) ihn in einer zehnjährigen Recherche und in 28 fragmentarischen Fundstücken aufgespürt und seine Geschichte(n) rekonstruiert hat.
Ségurant ist ein moderner Held, durch Zauberkräfte manipuliert. Er jagt einen imaginären Drachen und verschreibt sich damit der Flucht aus der Realität, als sei er ein Digital-Gamer heutiger Tage. Er fällt auf Lug und Trug herein, verschwindet am Ende beinahe spurlos. Uns so nahe wie vielleicht kaum eine andere Figur des Mittelalters, ist dieser Held ein »missing link« in der Geschichte des europäischen Romans. Er speist sich aus Siegfried- und Artussagen und dem nordischen Sagenkreis, schlägt aber bereits – vorab – den Bogen zu pikaresken Helden wie Don Quichote, transformiert den Ritterroman in Richtung Moderne.
All das ist eine Sensation – nicht nur für die Fachwelt, sondern dank der behutsam-klugen Übersetzungsarbeit auch lesbare, spannende Literatur. Und das in einem begeisternd schönen Buch. Die deutsche Hardcover-Ausgabe aus dem Reclam-Verlag übertrifft das französische Original-Paperback bei Les Belles Lettres deutlich an Wertigkeit und Haptik: 288 statt 272 Seiten, 74 statt 25 farbige Illustrationen aus mittelalterlichen Handschriften, wunderbar weich gestrichenes Papier, kluger Satzspiegel, großzügige Gestaltung, Lesebändchen. Druck und buchbinderische Verarbeitung bei Pustet in Regensburg. Ein veritabler Bücherschatz.
Und noch einmal: ein Ritterroman, allen Ernstes? Aber ja. Wenn die Artusritter eine Fortsetzung in die Moderne haben, dann im Kriminalroman – als Privatdetektive oder Polizisten. Joseph Wambaugh, der vom Cop zum Schriftsteller gewordene Bahnbrecher realitätstüchtiger Kriminalliteratur, gab 1972 seinen zweiten Roman den Titel »The Blue Knight«, der blaue Polizisten-Twill als Ritteruniform. George Kennedy verkörperte dann diesen brummigen L.A.-Streifenpolizisten namens William »Bumper« Morgan 1975/76 in der leider nie in Deutschland ausgestrahlten gleichnamigen TV-Serie. Jerry Oster schickt einen »Saint Mike« durch die New Yorker Gosse, das Cover zeigte ohne jede Ironie eine Ritterrüstung. Natürlich sind auch Dashiell Hammetts Sam Spade, Raymond Chandlers Philipp Marlowe, Robert B. Parkers Spenser und Legionen anderer Detektive so etwas wie die letzten Ritter. Jerome Charyn evoziert ein Camelot samt ganzer Ritter-Metaphorik mitten in Manhattan. Ja sogar noch der namenlose Londoner Factory-Cop aus Derek Raymonds Höllenzyklus lässt sich als solcher lesen. Von manch heutigem »Tatort«-Kommissar ganz zu schweigen …
Stolze 101 moderne Ritter zählte 1985 die Studie »One Hundred and One Knights: A Survey of American Detective Fiction 1922–1984« alleine für die USA auf (von Robert A. Baker und Michael T. Nietzel). Dann gibt es ja auch Batman, den dunklen Ritter. Captain America trägt einen Wappenschild, und auch so mancher andere Marvel-Held hat Ritter-Accessoires. Die Ritter sind unter uns, Ritterinnen inzwischen auch. Italo Calvino dekonstruierte den ganzen Mythos bereits 1959 mit »Der Ritter, den es nicht gab« … Dieses Thema müsste vertieft werden. Ein lohnendes Feld.
Doch zurück ins Mittelalter. Ségurant ist von allen Artusrittern vielleicht der heutigste. Auch wenn er im Lanzenstechen und Schwertfechten unbesiegt bleibt, ist er nicht zufrieden. Verzaubert von der Fee Morgane, jagt er einem imaginären Drachen nach, den er nicht finden kann. Auf der Suche nach ewigem Ruhm verschwindet er am Ende und wird daraufhin – vergessen. Und das kommt so: Bei einem großen Turnier sprechen die treulose Morgane und die Zauberin Sibylle einen Zauberspruch, der ein zweites Turnier nahe der Damentribüne beginnen lässt. Viele fremde Ritter sind dabei, bald schon fliehen sie – vor einem schrecklichen Drachen, der sie alle verschlingt. Eine von der Zauberin Sybille herbeigerufene Feuerwand hält die Artus-Ritter von jeder Hilfe ab.
»Als Ségurant das gewaltige Getöse hörte, griff er sich den Schild mit dem Löwenwappen und treib sein Pferd in Richtung des Lärms. Als er sich dem Ort näherte, wo sich das alles zutrug, riefen die Damen und Fräuleins allesamt: »Macht Platz für den kühnen Ritter dort! Wenn der uns nicht beisteht, sind wir alle verloren!« Sie bildeten für Ségurant eine Gasse; und als er beim Feuer ankam und den Drachen sah, kam es ihm ganz so vor, als verschlinge der die Ritter. Da erklärte Ségurant vor allen dort Versammelten, wenn er das Königreich Longres nicht von diesem Drachen befreie, wie einst die Insel Ungewiss von den Löwen, wolle er keinen Tag länger leben, da er andernfalls den Schild nicht verdiene. Er schlug das Kreuz über seinem Gesicht, durchbrach die Feuerwand und ritt dann mit gesenkter Lanze dorthin, wo er den Drachen wähnte …«
Der Drache ergreift die Flucht, der Ritter bleibt ihm auf den Fersen. Es wird Abend und Nacht, noch immer steht die Feuerwand, die meisten Ritter bleiben in voller Rüstung, »als wären allzeit ihre Todfeinde zugegen«. Auch am Morgen ist Ségurant noch nicht zurück. König Artus befiehlt, dass sie alle zwei Wochen auf ihn warten. »Was soll ich euch sagen? Die Ritter besuchten oft die Stelle, wo die Feuerwand gewütet hatte, und fanden die verbliebene Asche und die noch aufgewühlte Erde. Und damit endet die Geschichte von dieser Aventüre …«
Eine »Aventüre« (von frz. Abenteuer) im Artusroman ist nicht nur etwas, das dem Helden zustößt, sondern das, was ihm notwendig zukommt (lat. advenire) und seiner Existenz Sinn verleiht. In weiteren Kapiteln folgt Ségurant dem Drachen immer tiefer in den Wald des Mitleids hinein, trifft einen Eremiten, »verfolgt, ganz und gar verzaubert, den Teufel, der die Gestalt eines Drachen angenommen hatte …«
Es gibt viel »Tjost« (Zweikampf mit der Lanze zu Pferd und in voller Rüstung), »Buhurt« (Gruppenkampf), »Pas« (ein Ritterspiel, bei dem ein Einzelner einen bestimmten Ort gegen alle verteidigt) und »Queste« (Suche, bei der es um die Erfüllung ritterlicher Pflichten und auch um die innere Reifung des Helden geht). Immer wieder schweift die Erzählung ins sozusagen »bürgerliche«, proletarische Lager, zu Wirtshaus-Schlägereien und Lümmelei. Komisch auch der unersättliche Appetit des Ritters Ségurant. Nicht einmal auf der Weißen Insel ist er zu stillen, einem mystischen Ort voller Wald und Wildnis, an dem ein Gelage auf das andere folgt.
Löwe und Drache, die bereits in der Bibel auftauchen, stehen in den Artus-Romanen für die allerstärksten und gefährlichsten Tiere. Ségurant nimmt es gleich mit beiden auf. Der Drache von Bayblon, den die »Vulgata«, die Bibelübersetzung des heiligen Hieronymus, dem »Buch Daniel« zurechnet, ist vermutlich auch eine Anspielung auf den römisch-deutschen Kaiser Friedrich II., den Erzfeind des Papstes. Das Konzil von Trient setzte die »obskuren Prophezeiungen Merlins« auf den Index der verbotenen Bücher. Von da an, vermutet Arioli in seinem Nachwort, war auch der Drachenritter dem Feuer geweiht. Tatsächlich fand Arioli Fragmente der Geschichte in einem Lagerraum voller verkohlter Manuskripte in Turin, die teilweise noch lesbar waren. Auch in Trier fand er ein zugehöriges Handschriftenblatt. Seine Recherche führte ihn quer durch Europa und virtuell auch in die USA und nach Russland.
Selbst sozusagen einem imaginären Drachen folgend, sichtete er Tausende von Handschriften. Nicht weniger als 28 versammelte er für die Rekonstruktion, dazu weitere 70 Zeugnisse. Die Hauptfassung, so seine detektivische Recherche, wurde zwischen 1240 und 1273 verfasst und stammt wahrscheinlich aus der Gegend von Venedig. Ausgangspunkt war eine Handschrift in der Bibliothèque de l’Arsenal in Paris (Nr. 5229), die einst Kardinal Richelieu gehört hatte. Sie enthält die »Prophéties de Merlin«, die Prophezeiungen Merlins, einen um 1272/73 auf Altfranzösich in Italien verfassten Artustext. Zwischen den Prophezeiungen verbirgt sich die fortlaufende Geschichte von Ségurant dem Braunen, genannt der Drachenritter. Sie verfügt über kein Ende, bricht ab. Arioli fand auf seiner Suche weitere Erzählfragmente. Sie sind im Buch enthalten.
Ein »ensemble narratif«, ein in verschiedenen Manuskripten in Episoden überliefertes »Erzählensemble« zu entdecken, die alle zusammen eine zusammengehörige Erzählung von einem Helden ergeben, der zuvor noch nicht bekannt war, »ist ein Sechser mit Zusatzzahl im mediävistischen Handschriften-Lotto«, erkennt die Romanistin Susanne A. Friede in ihrem Nachwort neidlos an.
Ein Ritterroman also, im Jahr 2024? Aber ja. Er beginnt so: »Einst gab es, wie die wahre Geschichte bezeugt, zwei Ritter, denen niemand auf der ganzen Welt an Tapferkeit gleichkam, Galehaut den Brauen und seinen Bruder Hektor …«
Alf Mayer
P.S.: Der Buchumschlag zeigt St. Georg, gemalt von Bartholomäus Zeitblom um 1482, also nicht ganz Ségurants Zeit … aber Ritter sind eh Zeitreisende.