Der Titel ist zugegeben etwas marktschreierisch geraten, doch dahinter öffnet sich die pure Poesie – zumindest aus dem heutigen Blickfeld. Es sind kostbare Ansichten aus einem vergangenen Frankfurt, einem vergangenen Jahrhundert, einer vergangenen Zeit, die auf diese Weise vor dem verloren gehen bewahrt werden – Stadtansichten von einem der Begründer der Architekturfotografie, dem Frankfurter Carl Friedrich Mylius (1827–1916). Das Städel zeigt sie jetzt in einer ersten Retrospektive.
Wenn man die Epochen unter die Lupe nimmt, die sein Leben umspannten, dann wird deutlich, welche grundsätzlichen Perioden des Wandels er bezeugen konnte: Industrialisierung, preußische Annexion, Kaiserreich, der deutsch-französische Krieg von 1871, Verstädterung. Doch »manchmal braucht man Orte, an denen sich nichts ändert«, reklamiert der Städeldirektor Philipp Demandt für diese Schau, man braucht sie zur Verortung, zur Vergegenwärtigung des gesellschaftlichen wie städtebaulichen Wandels. Aus der Vergangenheit könnten sich durchaus Forderungen an die Zukunft stellen, so beispielsweise eine Stadt der Flaneure wieder auferstehen zu lassen, was in Zeiten der Klimakrise mehr als vernünftig, wenn nicht sogar geboten wäre. Und an manchen der damals porträtierten Ecken, Straßen, erhascht man tatsächlich etwas Elegant-Pariserisches.
Dem Bestand von 80 Fotos, über den das Städel bereits verfügte, wuchsen durch eine großzügige Schenkung noch einmal 180 Werke hinzu, und als Leihgabe erhielt man aus privaten Kreisen autobiografische Notizen, so dass die Schau auf einem breiten Fundament ruht. Man kann von einer umfassenden Präsentation seines Werkes sprechen, aber nicht von einer umfassenden Präsentation der Stadt. Denn die Auftraggeber für seine Aufnahmen waren reiche Bürger, die sich ihre Villa fotografieren ließen, städtische Ämter, Stiftungen, Gesellschaften und Vereine. In den Kinderschuhen der neuen Kunst ließ sich Geld mit Porträts verdienen, also auch mit Porträts von Häusern … Und da Frankfurt auch zu Mylius‘ Lebzeiten bereits von Messegästen und Touristen besucht wurde, fotografierte er die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt und stellte die Fotos zu Mappen zusammen, die als Souvenir guten Absatz fanden.
Die Welt von damals war bereits damals eine Welt im Wandel. Die Fotografien sind zwischen 1855 und 1880 entstanden und zeigen hauptsächlich die Innenstadt, die Altstadt mit der Judengasse, deren Mauern bereits gefallen waren, und einige typischen Bauten aus dem Westend. Sachsenhausen galt als wenig attraktiv, war noch Fischer- und Gemüsebauerngegend. Die Kostbarkeit, die diese Fotos tatsächlich verkörpern, liegt in ihrer für die damalige Zeit bahnbrechenden Präzision und Detailverliebtheit, in dem Wunsch, etwas zu zeigen, wie es sich tatsächlich dem Blick angeboten hat. Beispielsweise die Ansichten vom Main auf 31 Einzelbildern, die eine Gesamtstrecke von 2,5 km abbilden, das älteste Panoramafoto Deutschlands.
Mit dem Kollodium-Nassplatten-Verfahren und Belichtungszeiten von bis zu 20 Sekunden konnten keine belebten Bilder entstehen, es sei denn, die Menschen reihten sich auf wie es damals das Wehrpersonal vor der Hauptwache tat. Aus einer anderen Zeit scheint die Aufnahme eines Lazaretts für Kriegsversehrte (1871) an der Pfingstweide zu stammen. Ein derart dem kollektiven Gedächtnis hinterlassener Gebäudekomplex gibt ebenfalls zu denken: Es ist die »Anstalt für Irre und Epileptische« auf dem sogenannten Affensteiner Feld, wo später das I.G.-Farben-Haus gebaut wurde und jetzt der Campus Westend steht. Heinrich Hoffmann, der Struwwelpeter-Autor, war ihr Leiter, und ließ das prachtvolle neogotische Gebäude von einem großzügigen Garten umgeben, denn der gehörte zum Konzept der geistigen Gesundheit. 1864 war das, und es ist heutiger denn je.
»Frankfurt forever!« – Architekturfotograf Carl Friedrich Mylius im Städel
