Im Januar 2016 haben wir uns zum ersten Mal auf seinem Turf getroffen. Dort wo er wohnt und schreibt – und an zwei Halbinsel-Seiten zum Nachdenken jeden Tag spazieren gehen kann. Wie es der Zufall will, lebt unsere australische Freundin Rosie nur zwei Landstraßen-Ecken von Garry Disher entfernt auf der Mornington Peninsula südlich von Melbourne. Bis in die 50er Jahre war diese Halbinsel nur per Schiff erreichbar, es gab kaum Verkehrswege, heute wird die S-Bahnlinie mit Hochdruck ausgebaut, um die vor allem an den Wochenenden überfüllten Straßen zu entlasten. Rosie und Garry wohnen, beide mit Bedacht, abseits der Hauptverkehrsströme. Es ist sehr ländlich. Pferdekoppeln, manchmal eine kleine Bio-Farm, ein Strand nicht fern, die Häuser weit verstreut, Orte ohne Ortskern, höchstens mit einem kleinen Einkaufszentrum. Die Straße zu Garry Dishers Haus ist ungeteert, ein von Baumkronen beinahe komplett überwucherter langer Hohlweg, was für einen schönen Lichteinfall sorgt. Sein Grundstück ist beachtlich groß und von Wald und Gebüsch umschlossen: Obstbäume, ordentlich viele Gemüsebeete, alter Rasen, und mitten drin ein altes Holzhaus. Urgemütlich, die vordere Haushälfte ein einziger hoher Raum bis unters Dach, das eher kleine und recht karge Arbeitszimmer auf der Schattenseite des Hauses. Diesmal waren wir zu einem Absacker bei ihm, nach einem gemeinsamen Dinner beim Nepalesen.
Auf der Suche nach einem richtig guten Kriminalroman ist Garry Disher schon immer eine verlässliche Bank. Sein Qualitätsniveau beeindruckt Kritiker ebenso wie Leser. Im deutschen Sprachraum ist er seit 20 Jahren ein Begriff, sensationelle fünf Mal schon wurde er mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Zum vorletzten Mal 2017 für »Bitter Wash Road«, in dem ein strafversetzter Polizist namens Paul Hirschhausen, genannt Hirsch, sich im staubigen Hinterland von Adelaide behaupten muss. Der einsilbige Constable Hirsch war eine Figur, die man nicht wieder vergisst. Ebenso wie die Landschaft, in der das Buch spielt. Bei Garry Disher ist sie immer auch Charakter.
Jetzt ist Hirsch zurück, und das zum inzwischen vierten Mal. Das neue Buch heißt »Desolation Hill« (bereits vorab in unserer letzten Ausgabe besprochen). Auch Übersetzer Peter Torberg ist von dem Roman hellauf begeistert. Er sagt: »Wenn ein Autor sich beständig selbst übertrifft, dann ist das für den Übersetzer ein Fest.« Torberg bringt den Australier seit 2005, seit »Flugrausch«, aus einem lakonischen australischen Englisch in ein schnörkellos klares Deutsch. Er kennt ihn also so gut wie vielleicht sonst nur sein Lektor. Für ihn ist es der zehnte Disher-Roman, den er übersetzt hat. Ein guter Autor und ein erfahrener Übersetzer als Team, das garantiert Lesegenuss – Torberg sieht sich als Dishers Synchronsprecher. Und ja, vom Film sind wir solche Teambildung gewohnt.
Alf Mayer: Deine Romane haben bei aller Spannung etwas Bodenständiges, Reales. Das ist für uns Leser ein Bonus und macht einen Großteil des Reizes aus, den Deine Bücher haben. Aber vermutlich ist das auch wichtig für Dich selbst als Autor. Ohne sich an die Schauplätze Deiner Romane zu versetzen könntest Du sie wahrscheinlich gar nicht schreiben, oder?
Garry Disher: Ich kann mir nicht vorstellen, Fantasy, Horror oder Science-Fiction zu schreiben, und eigentlich schaue ich auch keine Filme aus diesen Genres. (Sie sind nicht real!) Ich liebe es, über die Welt zu schreiben, in der wir leben. Und zwar nicht nur über »reale« Orte, sondern auch über »wirkliche« Menschen und »reale« Verbrechen und soziale Umstände. Einen neuen Roman vermag ich erst zu beginnen, wenn ich die Charaktere vor mir sehe wie sie durchs Zimmer laufen oder wenn ich ihre Stimmen hören kann.
Die Romane mit Constable Hirsch spielen ja wohl in einer Gegend, die Deinen Kindheitserfahrungen entspricht. Stimmt das? Und wie gehst du damit um?
Ich bin nahe der Stadt Burra aufgewachsen, im mittleren Norden von Südaustralien. In den Hirsch-Romanen wird daraus das Städtchen Redruth. Tiverton, wo Hirsch lebt, basiert auf dem winzigen Ort Hallet. Diese Gegend hat meine Vorstellungskraft immer schon beflügelt. Ich habe dort auch schon einen Roman mit dem Räuber Wyatt angesiedelt (»Paydirt«, 1992; deutsch »Dreck«, 2000) und ein Buch mit Inspector Challis (»Chain of Evidence«, 2007; deutsch als »Beweiskette«, 2009). Einmal im Jahr kehre ich dorthin zurück, um meine Geschwister und Cousins und Cousinen zu sehen. Ich fahre dann immer durch die alten Orte meiner Kindheit und Jugend, begegne der Vergangenheit. Manchmal mache ich mir auch Notizen – über soziale Veränderungen (eine geschlossene Bank oder das Ende anderer nützlicher öffentlicher Institutionen), über technische Entwicklungen (die Windräder zum Beispiel) oder ich frische meine Sinneserinnerungen auf (die Art des Lichts, die Gerüche oder die Textur von Gegenständen). Oft zehre ich aber beim Schreiben von Erinnerungen.
Hat sich durch die Romane für Dich dort etwas verändert?
Es kann sein, dass die Hirsch-Romane die Gegend abgelegener und trockener zeichnen als sie in Wirklichkeit ist. Vielleicht sollte Hirsch auch mal bald von dort weg? Und natürlich habe ich die Mordrate dort draußen inzwischen ordentlich in die Höhe getrieben. Im wahren Leben geschieht dort nur alle fünfzig Jahre ein Mord.
Warum ist Hirsch eine solch interessante Figur? Was treibt ihn an?
Ich denke der Reiz, den Hirsch auf viele Leser ausübt, beruht auf vier Bereichen seines Lebens und seines Charakters. Erstens ist er ein Außenseiter im Outback. (In den meisten Kriminalromanen ist die Hauptfigur sehr an ihrem Ort verwurzelt.) Er ermittelt deshalb immer doppelt: einmal in Hinblick auf das Verbrechen, das er untersucht, und gleichzeitig ist er dabei, herauszubekommen, wie der Ort »tickt« und wie er sich dort einleben kann. Zweitens ist er nur ein einfacher Constable und verfügt über wenig Weisungsbefugnis. (Im Kriminalroman hat die Hauptfigur normalerweise einen gewissen Dienstgrad, ist zum Beispiel Inspektor.) Drittens ist Hirsch ebenso Sozialarbeiter wie Verbrechensbekämpfer: Teil seines Jobs ist es, bei den Einsamen, den Kranken und den Benachteiligten nach dem Rechten zu sehen und bei kleineren Delikten nach Lösungen zu suchen, die unterhalb eines Arrests liegen. Viertens ist er ein fairer und freundlicher Mensch. Er trinkt nicht viel, nimmt keine Drogen, ist nicht durch verborgene dunkle Schwachstellen oder tiefsitzenden Liebeskummer belastet. In vielen amerikanischen Kriminalfilmen und Romanen steigert sich der Held oft in Gefühlsausbrüche hinein, schlägt mit den Fäusten auf das Lenkrad ein oder fegt alles vom Schreibtisch. So etwas würde Hirsch nie passieren. Beim Blick auf solches Benehmen würde er schlicht sagen: »Werde erwachsen!« Ich denke oft, dass er nicht so viel anders ist als wir es sind. Wir können uns mit ihm identifizieren.
Du hast Verwandte, die Polizisten sind. Konsultierst Du sie?
Mein Bruder war ein Landpolizist wie Hirsch, das ist sehr hilfreich für alltägliche Informationen. (Ich kann ihn zum Beispiel anrufen und fragen: »Russ, ist der hintere Bereich – der für den Gefangenentransport – in einem Polizeiwagen klimatisiert?«) Wie mein Vater redet er aber nicht über die dunkleren Dinge, die er gesehen oder getan hat. So wie mein Vater nie etwas über die dunklen Seiten seiner Soldatenzeit im Zweiten Weltkrieg gesagt hat.
Es gibt inzwischen eine ganze Industrie von »Country Noir« oder »Regio-Krimi«, wie wir in Deutschland sagen. Wie hebst Du Dich ich von diesem Genre ab?
Ich hasse diese Bezeichnung und wünschte, diese Modeerscheinung würde in Vergessenheit geraten. Ich wusste nicht, dass ich »Country Noir«- oder »Outback Noir«-Romane schreibe, ehe ein Journalist diese Bezeichnung erfand. Ich habe einfach über das geschrieben, was ich am besten kenne. Kriminalromane mit einem ländlichen Setting gab es in Australien schon immer, denken Sie nur an Arthur W. Upfield und seinen Aborigines-Inspektor Napoleon »Bony« Bonaparte. »Bitter Wash Road«, mein erstes Buch mit Hirsch, ist im Jahr 2013 erschienen, deutlich vor dem ersten Roman von Jane Harper (»The Dry«/»Hitze«, 2016) oder vor »Scrublands« (2018) von Chris Hammer, das in Deutschland 2019 als »Outback« herauskam. Als Resultat dieser Mode haben wir heute ein Genre voller Isolierte-Kleinstadt-mit-dunklem-Geheimnis-Romane, viele von ihnen sind nicht gut geschrieben und stammen von Autoren, die auch noch auf den Zug aufspringen wollten.
Ich glaube, Du thematisierst das Problem »kulturelle Aneignung« und das Verhältnis zu den australischen Ureinwohnern in Deinem neuen Roman zum ersten Mal. (Das übrigens schon gleich zu Beginn und wie nebenbei – ich meine die Eröffnungs-Szene mit der ins Land gefrästen Erdzeichnung, die ein mythisches Tier der Aborigines darstellt.) Hat das etwas mit dem verlorenen Referendum vom letzten Jahr zu tun, das die Rechte der australischen Ureinwohner nicht gerade begünstigt hat?
Mein Roman »Day‘s End«, wie er im Originaltitel heißt, ist bei uns down under im November 2022 erschienen, also vor dem Referendum von 2024, wenn ich das einwerfen darf. Die Ureinwohner Australiens und ihr Land, auf dem wir alle leben, auch namentlich anzuerkennen in Büchern oder Filmen, das gibt es als Bewegung schon etwas länger. Das verlorene Referendum hat aber viele Menschen traurig gemacht, mich auch, und mein neuer Hirsch-Roman »Mischance Creek«, der in Australien Ende des Jahres 2025 erscheinen wird, bezieht sich sehr deutlich darauf.
Hirsch hört gerne Musik im Radio, wenn er auf seinen langen Touren durchs Hinterland ist. (Mir persönlich hat es besonders gefallen, dass er einmal »Chicago« mit »25 or 6 to 4« gehört hat, für ihn einer der größten Songs, die je geschrieben wurde, wofür ich ihm zustimme.) Aber in »Desolation Hill«, wenn ich es nicht überlesen habe, gibt es kaum musikalische Referenzen, hat das mit der Corona-Zeit zu tun, in der dieser Roman spielt?
Es gibt keinen wirklichen Grund dafür, dass weniger Musik vorkommt. Es gibt einige Bezüge auf Johnny Cash (in den Kapiteln 28 und 30). Corona hat nichts damit zu tun.
Wie schwierig war es denn, das Buch in der Corona-Zeit anzusiedeln?
Erst als der Roman bei uns in Australien herauskam habe ich erfahren, dass einige meiner Schriftstellerkollegen von ihren Verlegern angegangen worden waren nach dem Motto: »Unsere Leser wollen nichts von Corona hören, das Thema ist zu depressiv.« Mein Verleger hat nicht ein einziges Wort darüber verloren, dafür bin ich dankbar. Mir selbst erschien es einfach komplett normal, mich auf Corona zu beziehen. Man hatte damit auch im Outback zu tun, warum sollte ich meinen Kopf in den Sand stecken? Es hat uns alle betroffen. Und ich schreibe ja über die Welt, in der wir leben. Außerdem waren gerade einfache Cops wie Hirsch draußen an der Front, auf die es ankam, unpopuläre Regeln durchzusetzen oder es mit gefährlichen Verschwörungstheoretikern aufzunehmen. Es schien mir also ganz normal, dass Hirsch es im Verlauf des Romans bei seiner alltäglichen Arbeit auch mit schwierigen Leuten zu tun bekommt.
Mit Hirsch wird es, wie Du erwähnt hast, auch noch einen fünften Roman geben. Was dürfen wir erwarten?
Der fünfte Hirsch-Roman beschäftigt sich mit Umweltverbrechen, verschärft durch eine schwere Dürre und Korruption im Gemeinderat. Und zwischendurch hilft Hirsch einer jungen Frau, deren Vater vor vielen Jahren tot am Boden eines Minenschafts gefunden wurde und deren Mutter seitdem verschwunden ist. Der Gerichtsmediziner entschied damals, dass es sich nur um eine weitere Outback-Tragödie handle …