Viel Tinte ist zum Thema Rassismus schon geflossen, ob wir als Menschheit diese klaffende Wunde je überwinden? Ich glaube nicht, dass es dafür hilft, Wörter abzuschleifen oder zu verbieten und Übersetzungen zu verhunzen. Mehr glaube ich an die Macht von Sinneserlebnis, an Eindruck, der etwas macht. Und hinterlässt.
Der für mich wohl beste Beitrag zum runden Geburtstag von James Baldwin – jetzt am 2. August 2024 wäre er hundert geworden – ist eine Ausstellung in Aargau in der Schweiz, die am 7. Januar dieses Jahres schon wieder vorbei war, ist für mich ein Text von wenigen Seiten, der zuerst 1953 in »Harper’s Magazine« erschien und dem diese Ausstellung gewidmet war. Sie bleibt zugänglich als Katalog. Sein Titel, wie auch der der Ausstellung: »Stranger in the Village. Rassismus im Spiegel von James Baldwin«. (Aargauer Kunsthaus, 3.9.2023–7.1.2024, Videos zur Ausstellung auf der Internetseite des Museums.)
Leukerbad heißt das Dorf, in dem Baldwin damals, vor jetzt über 70 Jahren, ein Fremder war. Er kam erstmals im Sommer 1951 dorthin, im Alter von 27 Jahren, zweimal dann noch im folgenden Winter. Die Familie seines Lovers Lucien Happersberger, ein Schweizer Maler, den er in Paris kennengelernt hatte, besaß im höchstgelegenen europäischen Thermalbad ein kleines Chalet. Jeder im Ort – keine 600 Einwohner –, wusste, dass er der Gast der Happersberger war. Mit einer Schreibmaschine und zwei Lieblingsschallplatten von Bessie Smith im Gepäck zog der junge New Yorker mit Pariser Adresse in das seit der Römerzeit für seine heißen Quellen bekannte kleine Kaff. Der Aufenthalt sollte ihm Ruhe geben für den Abschluss seines ersten Romans, »Go Tell it on the Mountain« (dt. Von dieser Welt). »Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hatte vor mir kein schwarzer Mann dieses kleine Dorf in der Schweiz jemals betreten.« – So beginnt auch sein Essay.
Goethe war 1779 schon hier gewesen, Guy de Maupassant 1877 und Mark Twain 1978, in Leiggerbad oder Baadu, wie die Einheimischen, Loèche-les-Bains wie die französischsprachigen Schweizer sagen. James Baldwin aber war definitiv der erste Schwarze dort. Diese Erfahrung, der einzig schwarze Mensch in einem ausschließlich von Weißen bewohnten Dorf zu sein, war enorm – für die Dörfler ebenso wie für Baldwin. Die Einheimischen wollten ihn berühren, um zu sehen, ob seine Haut nicht abfärbt. Baldwins Reflexionen über diese Erfahrung von Rassismus und die Geschichte weißer Vorherrschaft sind heute noch gültig und relevant. Machen Eindruck.
Baldwin ist ein »staunenswerter Anblick« (a sight, im Original), »ein lebendes Wunder«, ein seltsames Wesen, abgrundschwarz fremd. Er wird angestarrt wie ein Rind. »Neger! Neger!«, rufen ihm die Kinder nach. Zur Dokumentation der Ausstellung gehört auch ein Video, ein Ausschnitt aus einer Reportage der Radio Télévision Suisse RTS mit Ausschnitten aus einem Amateurfilm, das die Dorfkinder in der Interaktion mit Baldwin zeigt (ab 0:33 Min).
In seinem Text nimmt Baldwin die Kinder in Schutz. »Neger!, Neger!» klingt für ihn anders als »Nigger, Nigger«, denn: »Ich bin hier ein Fremder. Aber in Amerika bin ich zuhause, und derselbe Begriff bezeichnet dort den Zwiespalt, den meine Anwesenheit in der amerikanischen Seele ausgelöst hat (…) Die Kinder können nicht wissen, welches Echo sie damit in mir auslösen.«
Tiefer schneidet die Geschichte über die christliche Mission in Afrika, von der ihm die Frau des Dorfwirts stolz und ohne Arg erzählt, für sie ein Zeichen der Verbundenheit und Seelennähe, die im Dorf für Afrika empfunden würde. In der Kirche stehe ein »Nick-Negerlein«, eine schwarze Kinderfigur, die mit dem Kopf nickt, wenn ein Geldstück in einen Schlitz geworfen wird. (Wir im Allgäu hatten so etwas auch.) Und im Fasching würden zwei schwarzbemalte Kinder beim Umzug zusätzlich Geld für die Missionare in Afrika sammeln. Damit, so erzählt die Wirtin Baldwin stolz, »kaufen« Missionare dann schwarze Kinder für die Kirche, damit sie katholisch erzogen und ihre Seelen gerettet werden könnten. Sechs oder acht Negerkinder seien das allein im vergangenen Jahr mit dem Geld aus dem Dorf gewesen.
Diese Form der Eroberung durch erkaufte Bekehrung stellen die Dörfler nicht ansatzweise in Frage, registriert Baldwin. »Ich hingegen finde mich ohne jeden Gedanken an Eroberung unter Menschen wieder, deren Kultur mich beherrscht, mich sogar in gewisser Weise erschaffen hat.« Die Vereinigten Staaten mit ihrer weißen Siedlerschicht seien ein Produkt Europas, »die Bewohner dieses Dorfes aber haben Amerika nie gesehen (…). Trotzdem bewegen sie sich mit einer Autorität, die ich niemals haben werde, und betrachten mich zu Recht nicht nur als Fremden in ihrem Dorf, sondern auch als verdächtigen Nachzügler, als jemanden, der keine Ansprüche auf etwas erheben kann, was sie, wie unbewusst auch immer, als ihr Erbe betrachten … Denn dieses Dorf, selbst wenn es noch unvergleichlich abgeschiedener und unglaublich primitiver wäre, ist der Westen, ein Westen, dem ich auf seltsame Weise aufgepfropft wurde. Unter dem Gesichtspunkt der Macht können diese Leute nirgendwo auf der Welt Fremde sein; sie haben die moderne Welt letztendlich geschaffen, selbst wenn sie sich dessen gar nicht bewusst sind. Auch die Ungebildetsten unter ihnen haben auf eine Art, die mir verwehrt ist, eine Beziehung zu Dante, Shakespeare, Michelangelo, Aischylos, da Vinci, Rembrandt und Racine; die Kathedrale von Chartres bedeutet ihnen etwas, was sie mir nicht bedeuten kann, so wie es sicher auch das Empire State Building tun würde, falls jemand von hier es je zu Gesicht bekäme. Aus ihren Kirchenliedern und Tänzen gingen Beethoven und Bach hervor. Vor wenigen Jahrhunderten hatten sie ihre Blüte erreicht – ich aber war in Afrika und sah die Eroberer kommen.«
Baldwin macht sich (und uns) in seinem Essay klar: »Die Idee der weißen Überlegenheit beruht allein auf der Tatsache, dass Weiße die Schöpfer der Zivilisation und daher auch ihre Hüter und Verteidiger sind. Deshalb war es Amerikanern nicht möglich, Schwarze als ihresgleichen zu akzeptieren, denn damit hätten sie ihren Status als Weiße gefährdet. Sie nicht zu akzeptieren hieß jedoch, ihre menschliche Realität, ihre Bedeutung und Komplexität als Menschen zu leugnen, und die Anstrengung, etwas so überwältigend Unleugbares abzustreiten, zwang sie zu geradezu fantastischen, ja ans Pathologische grenzenden Vereinfachungen.«
Zehn Jahre bevor Martin Luther King 1963 seine berühmte Rede »I have a Dream« hält, verankert Baldwin (1924–1987) seinen Ruf nach einem »white no longer« in der »weißen Wildnis« der Schweizer Berge. »Die Wurzel des amerikanischen Rassenproblems liegt in der Notwendigkeit, dass der weiße Amerikaner eine Möglichkeit finden muss, mit den Schwarzen zusammenzuleben, um mit sich selbst zusammenleben zu können. (…) Das daraus resultierende Spektakel, albern und schrecklich zugleich, veranlasst jemanden zu dem durchaus zutreffenden Ausspruch, Schwarzer in Amerika sei eine Form von Wahnsinn, die den Weißen ereilt … In dieser langen Schlacht, die noch keineswegs beendet ist und deren unvorhersehbare Folge noch vielen zukünftigen Generationen zu schaffen machen werden, ging es dem weißen Mann darum, seine Identität zu schützen; der Schwarze hingegen musste sich seine Identität erst schaffen.«
Und weiter: »Vielleicht erweist sich diese Erfahrung eines Nebeneinanders von Schwarz und Weiß eines Tages als unentbehrlicher Wert in der Welt, vor der wir heute stehen. Eine Welt, die nicht mehr weiß ist und es nie wieder sein wird.« – »The world is white no longer, and it will never be white again.«
Das ist der Ausgangspunkt für das Buch, das war es auch für die Ausstellung. Kuratiert von Céline Eidenbenz werden dabei Zugehörigkeit und Ausgrenzung im Spiegel der Kunst thematisiert. Mit Baldwins literarisch-politischem Essay interagieren Gemälde, Fotos, Skulpturen und Objekte von 39 zeitgenössischen Kunstschaffenden wie Igshaan Adams, Kader Attia, Omar Ba, James Bantone, Marlene Dumas, Melanie Grauer, Jonathan Horowitz, Sasha Huber, Pierre Koralnik, Glenn Ligon, Martine Syms. Vincent Kohler vergrößert einen angeknabberten Mohrenkopf zur Skulptur, Notta Caflisch präsentiert mit »White Gold« einen Goldbarren aus gepresster roher Baumwolle. »Life is better when I’m cruel«, sagt eine Installation von Kader Attia. James Bantone verzerrt für »Fool of the Month/Polite Lies« (schwarze) Gesichter zu einem unnatürlichen Lächeln, wie es auch James Baldwin in seinem Essay beschreibt. Sasha Huber tackert Tausende von Heftklammern auf Akustikboards, porträtiert damit schwarze Persönlichkeiten. (In dieser Technik gibt es ein Porträt von James Baldwin am Fensterladen jenes Hauses in Leukerbad, wo er gewohnt hat. Das Buch aus dem Kampa Verlag, siehe die Bibliografie unten, hat es auf dem Cover.)
Fundierte Texte begleiten die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus, natürlich nicht nur in der Schweiz, in der es sehr wohl einen Kolonialismus ohne Kolonien gab und bis heute Bankkonten der Profiteure gibt. Die Worte Baldwins hallen in den Kunstwerken wider, sie geben Einblick in die Folgen des herrschenden strukturellen Rassismus. Rich Blint beschäftigt sich in seinem Text mit James Baldwins globaler Visualität. Bill Kouelany, 2007 als erste Frau aus der Subsahara auf die documenta eingeladen, verlängert Baldwins Dorf-Essay zu »Stranger in the World«.
Der gehaltvolle, anregende Band ist eine Aufforderung zum Tabubruch. Er hält den Spiegel vor, stellt Fragen, die uns alle angehen und lässt uns durch die Mittel der Kunst die Brisanz des Alltagsrassismus erkennen. Zweisprachig konzipiert, klar und sachlich gestaltet, zwischendurch auch mal ins Querformat wechselnd, zweifarbig und auf zwei Sorten von Papier gedruckt, ist »Stranger in the Village« ein mustergültiger Katalog. Das Aargauer Kunsthaus in Aarau kann – absolut auf internationalem Niveau – stolz sein, solch einen Beitrag zum Baldwin-Jahr geleistet zu haben.
Unsere weiße Welt hat klar ein Rassismus-Problem. »Ein großes Loch mitten in der Identität«, nennt der Australier Stephen Greenall das in seinem Roman »Winter Traffic«, der in Sydney spielt.
Alf Mayer
Céline Eidenbenz, Sarah Mühlebach (Hg.): Stranger in the Village. Rassismus im Spiegel von James Baldwin. Ausstellungskatalog, zweisprachig, Deutsch/Französisch. Scheidegger und Spiess, Zürich 2024. Paperback, Format 17 x 24 cm, 115 Farb- und 6 s/w-Illustrationen. 288 Seiten, 38 €, auch bereits antiquarisch zu haben.
PS.: Auf Deutsch erschien der Baldwin-Essay erst 2011/2012, im Zürcher Verlag von Ricco Bilger. Er ist auch in der ersten vollständigen deutschen Ausgabe Von einem Sohn dieses Landes (dtv, 2022) enthalten. 60 Jahre nach Baldwin, im Sommer 2014, reiste Teju Cole nach Leukerbad, trat dort mit Baldwin, seinem Text und mit den Dörflern in Dialog:
James Baldwin / Teju Cole: Fremder im Dorf / Schwarzer Körper. Übersetzt von Miriam Mandelkow (Baldwin) und von Uda Strätling (Cole). Kampa Verlag, Zürich 2024. 80 Seiten, gebunden, 19 Euro.