»Willkommen im sozialistischen Kuba, Genossen Stones«, steht auf einem der Plakate, das auf Seite 380 geschwenkt wird – wenn es endlich so weit ist und mehr als eine halbe Million Menschen unterwegs sind zum Kolosseum der Ciudad Deportiva (Sportstadt) in Havanna. Das legendäre Gratiskonzert der Rolling Stones in der kubanischen Hauptstadt vom 25. März 2016 ist einer der historischen Eckpfeiler des neuen Romans »Anständige Leute« von Leonardo Padura. Die exklusive Rock-Show wurde mit der Abschwächung der US-Sanktionen gegen Kuba möglich, manifestiert im dreitägigen Staatsbesuch von US-Präsident Barack Obama wenige Tage früher. Es war der erste amerikanische Staatsbesuch seit fast 90 Jahren, Höhepunkt eines Annäherungskurses zwischen zwei vormals verfeindeten Ländern. Von heute aus gesehen, blieb das nur Episode. Aber eine damals voller Hoffnung.
Eben dieser wertvolle Stoff Hoffnung ist die Grundwährung in so gut wie allen Romanen von Leonardo Padura. Sie ist sozusagen seine Geisteshaltung. Dies bei aller Grausamkeit und Härte der Realität, die er in seinen meisterhaft gebauten Romanen erforscht. Mit »Anständige Leute« beweist Padura erneut, dass er zu den großen Erzählern unserer Zeit gehört. Indem er uns von seiner sozialistischen Heimat Kuba erzählt, uns Geschichte und Gegenwart sinnlich und prall auffächert, erzählt er von unser aller Glauben an eine bessere Welt. Eine, die es geben müsste. Geben könnte. Geben sollte. Utopie eben. Und das heißt keineswegs, schon gar nicht bei Padura, dass damit der American Way of Life gemeint sei. Er sagt: »Die Menschen haben schon immer von einem Arkadien geträumt, und man muss weiter davon träumen. Nach welchem sozialen oder wirtschaftlichen Modell kann es aufgebaut werden? Ich weiß nicht. Ich bin kein Ökonom. Aber ich bin ein Bürger, und das ist die Welt, in der ich leben möchte.«
Diese humanistische Haltung macht Leonardo Padura, der im Oktober dieses Jahres 69 wird, zu einem der großen Botschafter der Weltliteratur. Seine Romane sind Schatzkammern, jeder von ihnen ein Grund dafür, warum wir Bücher lesen. Jeder von ihnen ein Leseerlebnis, das glücklich macht. Ganz ohne Kitsch, realitätstüchtig, lebensprall, ironisch, hoffnungsfroh. Das ist keine geringe Leistung für einen Roman, so viel muss ein Buch erst einmal tragen können. Padura hat uns dafür als Sherpa seine Romanfigur Mario Conde geschenkt, in »Anständige Leute« ist er jetzt schon das zehnte Mal die Hauptperson. 2013 porträtierte Padura selbst ihn so:
»Mario Conde ist eine fiktive Figur. Ursprünglich Polizist in den ersten vier Romanen. Dann hört er auf, handelt mit Büchern aus zweiter Hand und betätigt sich als Detektiv. Er ist ein Mann meiner Generation mit den Erfahrungen des Lebens meiner Generation in Kuba und einer Reihe von Zügen, die seine sind, die aber meinen nahe kommen: Sein Gefallen an der Literatur, an Büchern, sein Verhältnis zu Freunden – sehr kubanisch, aber mit charakteristischen Eigenheiten. Zu romantisch für seine Arbeit. Er hat einen pessimistischen Charakter in Bezug auf die Wirklichkeit und eine Art, sich durch Ironie gegen die Aggressionen der Welt zu verteidigen, die ihn umgibt. Vor allem teilt er mit mir die Sicht auf die kubanische Realität aus der Perspektive eines einfachen Mannes. Mario Conde ist kein Intellektueller, hat keine herausgehobene politische oder wirtschaftliche Stellung. Er ist ein normaler, einfacher Mann und aus dieser Perspektive schaut er auf die Realität.«
Mehr und mehr hat Mario Conde es seit seinem ersten Auftritt im Jahr 1991 übernommen, »die Entwicklung und die verborgenen Seiten dieser Wirklichkeit zu erhellen, in der er und wir uns befinden: die Wirklichkeit der Jahre, an denen Körper und Geist schwer zu tragen haben, die Wirklichkeit der Jahre, die auf der Insel Kuba und auf der Welt vergehen … Während er statt meiner und mit mir reift und altert, hat Mario Conde auch die Mission, die Unsicherheiten und Ängste, die meine Generation umtreiben, zu teilen und zu überliefern, in all den Details, in denen sie uns begleiten und auflauern; vom Gefühl des persönlichen Scheiterns, der gesellschaftlichen Frustration, der Unmöglichkeit, in dieser Welt mit ihren besonderen moralischen und wirtschaftlichen Ansprüchen seinen Ort zu finden, bis hin zu den traumatischen Ausdrucksformen der wachsenden Angst vor dem Unausweichlichen: dem Alter und dem Tod.«
Mit anderen Worten: In Mario Conde hat Padura sein ideales Alter Ego gefunden. »Anständige Leute« ist vielleicht der beste aller Conde-Romane, die einst mit dem legendären »Havanna-Quartett« begonnen haben. Keines seiner Bücher bisher, so Padura, sei »vielleicht so sehr Kriminalroman. Ich hatte das Bedürfnis, dem Genre einmal so richtig auf den Grund zu gehen und eine Geschichte mit mehreren Toten und vielen – physischen, historischen und spirituellen – Verbrechen zu schreiben«, bekennt er in seinem Nachwort. Und setzt hinzu: »Das Genre des Kriminalromans versetzt einen direkt hinein in die Realität und die Gesellschaft, wo sie am dunkelsten sind.«
Wie wir es von ihm kennen, verschränkt Padura auch in seinem neuen Roman wieder die Zeitebenen, findet in Kubas Geschichte sinnfällige Verknüpfungen zur Gegenwart, macht unser Wissen von der Welt damit bunter und reicher. Unorthodox war er dabei schon immer. Seine ganze Schriftstellerkarriere lang hat er in einem reglementierten Land die Grenzen der Freiheit und des Sagbaren ausgetestet. (Mir dazu unvergessen, Carlos Saura, wie er auf der Berlinale einst die Frage eines Journalisten beantwortete, ob die Franco-Zeit denn nicht grausig gewesen sei: »Aber Zensur verbessert doch den Stil!«) Für »Ketzer«, seinen großen Roman von 2014, eine scharfe Kritik des Stalinismus, gewann Padura den kubanischen National Literaturpreis. Allerdings ist er in den kubanischen Medien kaum präsent, er war zehn Jahre nicht im Fernsehen, seine Bücher sind in seinem Heimatland nur schwer erhältlich.
Dieses Mal packt Padura das Thema Zensur frontal bei den Hörnern. Ein verhasster Zensor aus den 1970er Jahren, den er Reinaldo Quevedo, »der Abscheuliche«, nennt, wird umgebracht. Viele kubanische Zensurbeamte und Funktionäre, die im Namen der Revolution viel Schlimmes angerichtet haben, sind in dieser Figur verkörpert. Wirkliche Autoren wie José Lezama Lima (1910–1976) oder Virgilio Piñera (1912–1979) werden als Opfer benannt, mit sichtlichem Genuss nimmt Padura für sie Rache, entblößt ein ebenso kleinkariertes wie engstirniges und ängstliches Regime.
Ebenso genussvoll zieht er als zweite Romanebene die Zeit von 1909/1910 ein, in der Kuba eine Art Wirtschaftswunder erlebte, gleichzeitig aber der Halleysche Komet dann am 20. April 1910 an der Erde vorbeizog und im Vorfeld Furcht und Weltuntergangsängste verbreitete. Es war eine Zeit der Modernisierung, einer starken Präsenz der USA und damit verbunden des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Hoffnungen. Keine zehn Jahre nach der Unabhängigkeit gab es damals auf den Straßen von Havanna mehr Automobile als in Madrid und Barcelona zusammen. Havanna wuchs, wurde zu jener Stadt, die Leonardo Padura sich zu seinem Ort gemacht hat und in die er wieder und wieder zurückkehrt. Im Zentrum seines diesmaligen Vergangenheits-Ausfluges steht eine berühmte kubanische Persönlichkeit, eng mit der sich formenden nationalen Identität verbunden. Seit 1987, als er für eine Zeitung den Artikel »Der Hahn von San Isidro« recherchierte, hatte er sie auf dem Schirm. Jetzt rückt sie in den Blick. Es handelt sich um Alberto Yarini, eine reale Person, damals der größte Zuhälter der Insel, ein Gangsterboss mit sozialer Ader, fast ein Volksheld. Ein Mord im Rotlicht-Milieu des alten Havanna entzündet eine Fehde zwischen Yarini und einem Konkurrenten.
Erzählt wird diese Rotlicht-Geschichte von einem jungen Polizisten aus der Ich-Perspektive. Wie Conde versucht auch er, seinen ethischen Grundsätzen treu zu bleiben und eine würdevolle und anständige Haltung zu bewahren. Und zu Condes Überraschung ergeben sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit ungeahnte Verbindungen. Die Parallelen zwischen den beiden Epochen ziehen sich durch den gesamten Roman. Es geht um die Zukunft der Nation angesichts politischer Korruption, Prostitution und sozialer Ungleichheiten. Damals wie heute – im Roman im Jahr 2016 – geht es um Hoffnungsmomente. Jeweils ist Havanna im Ausnahmezustand. Und für einen Moment ist es wieder so wie früher, »als ein Lied und ein Kuss genügten, um sich ins Paradies versetzt zu fühlen«.
Am Ende des Tages freilich ist und bleibt Mario Conde – der »Abweichler, Sturkopf, Renegat und Skeptiker«, so sein Autor über ihn – immer noch ein »Beatlemaniac«. Die Gitarrenklänge der Stones verwehen im Wind, ihr Besuch war letztlich eben bloß Rock ‚n‘ Roll.