Die Authentizität ist verbürgt. Denn der Autor war, bevor er einer wurde, Chemieloborant und arbeitete zwei Jahre lang Seite an Seite mit einer Chemikerin, die später Bundeskanzlerin im wiedervereinigten Deutschland wurde. Leo hat erfolgreich einige autobiographisch geprägte Bücher geschrieben und jetzt in der Reihe »Lieblingsbücher« im Berliner Galiani Verlag einen neuen Roman vorgelegt. Kat Menschik, die bekannte Zeichnerin und Illustratorin (FAZ-Lesern vertraut durch ihren gezeichneten Balken im Fernsehprogramm der Sonntagszeitung) hat diese Bücher auf ihre unverkennbare Art illustriert, so dass man von »ihrer« Reihe sprechen muss. Achtzehn Bände sind mittlerweile erschienen. Einer schöner als der andere.
Marc, um die zwanzig, Student aus West-Berlin, die Mauer gibt es noch, ist ein unsicherer Geselle. Er schämt sich für alles: seine Pickel, seine dünnen Haare, seinen Körpergeruch und die hohe Stimme. Außerdem findet er sich zum Gähnen langweilig. An den Wochenenden fährt er gerne nach Ostberlin. Das hebt, und zwar spürbar, sein Selbstwertgefühl. Er ist wer und wird fast wie ein Star behandelt. Beliebt, begehrenswert, gerne gesehen. Er bringt Bücher, Schallplatten, Zeitungen, sogar Jeans und Walkmans mit. Er erzählt den Ossis von der Szene am Prenzlauer Berg, er sei Topmanager einer West-Berliner Band. In Wahrheit jobbt er in einer Firma, die für Konzerte Klappstühle vermietet. Jeden Samstag geht er an den unfreundlichen DDR-Grenzsoldaten vorbei, »in den Arbeiter- und Bauernstaat, der nach Braunkohle und Pisse roch«. Er geht zu Lesungen am Prenzlauer Berg, »weil im Dunstkreis der zotteligen Dichter erfahrungsgemäß die tollsten Frauen unterwegs waren«. Tatsächlich trifft er auf einer Party Nele, »rote gelockte Haare, Haut wie Porzellan und braune Augen.« »Ich war, so kann man es, glaube ich, sagen, verloren«. Doch Nele ist auf einmal verschwunden, er sucht und findet sie, Wochen später, in ihrer Wohnung. Sie liest Heidegger und hört klassische Musik, was ihm mächtig imponiert. Und sie möchte ihm auch imponieren. Von den fünf Kapiteln dieses Buches sind drei mit »Marc« und zwei mit »Nele« überschrieben. Beide schildern ihre Treffen und ihr Zusammensein jeweils aus der eigenen Sicht.
Nele isst gerne Weinbergschnecken. Sie träumt von Paris. Sie liest viel, was Marc sichtlich beeindruckt. Mit ihm fühlt sie sich nicht mehr alleine. Marc geht es ähnlich. Er fühlt sich geborgen und hat Vertrauen zu ihr. Im Spätsommer 1989 spüren die Menschen im Osten, dass sich etwas verändern wird. Es ist die Zeit des Aufbruchs, der Wende. Viele ihrer Freunde verlassen die DDR, verkaufen und verschenken Hab und Gut. Für Marc ist schon der Gedanke, Nele könnte zu ihm in den Westen kommen und damit sein Lügengebilde zum Einsturz bringen, entsetzlich. Denn auch sie glaubt natürlich, dass er ein Konzertmanager und nicht ein armes Würstchen ist. Er hat verständlicherweise nicht den Mut, »ihr zu erzählen, wer ich wirklich bin«, obwohl er weiß, »wie sehr mein Lebensglück von ihrem abhing«. Ein Dilemma, mit durchaus tragischen Zügen. Und deshalb eine ergreifende Geschichte, die für beide endet, als die Mauer fällt. Marc kommt nicht mehr zu Besuch, meldet sich auch nicht. Als Nele merkt, dass sie schwanger ist, aber nichts von ihm weiß außer dem Vornamen, sucht sie ihn vergebens in West-Berlin.
Ein tragisches Ende? Oder doch offenes? Der Autor entscheidet sich, etwas hilflos, für beides. Denn Marc, es sind inzwischen zehn Jahre vergangen, ist ein erfolgreicher Manager mit eigenem Studio und zweihundert Angestellten geworden. Doch Nele kann er nicht vergessen. Er empfindet seine Flucht als Riesenfehler. Deshalb entscheidet sich Leo für eine Zwischenlösung. Nach, wohlgemerkt, zehn Jahren. »Ich werde morgen mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße fahren, werde von dort bis zur Marienburger Straße 37 laufen, die Treppe im Seitenflügel bis zur vierten Etage hochsteigen und an der blutroten Tür mit den schwarzen Rosen klopfen« … und der Leser kann hoffen, dass er dort Nele und seine Tochter finden wird. Obwohl Leos Text einige solcher kleinen Schwächen aufweist, liest man ihn mit Anteilnahme. Und zudem wird er beglaubigt durch die Bilder von Kat Menschik, die eine stabile Mitte halten zwischen ordentlichem Pathos und nüchterner Sachlichkeit. Ein Buch, das man auch gerne verschenken möchte.