Schirn: Lyonel Feininger – eine umfassende Retrospektive

Wenn Ingrid Pfeiffer in der Schirn eine Ausstellung kuratiert, so wie in der Vergangenheit die »Fantastischen Frauen« oder Paula Modersohn-Becker, dann kann man sicher sein, etwas zu sehen, was man vorher noch nicht so gesehen hat. Eine Facette verschieben, einen Blick neu schärfen, im allseits Bekannten etwas Unbekanntes finden, das appelliert an ihr forschendes Ich. Das Ergebnis ist jetzt in der Schirn zu sehen. Und mag jeder jetzt denken, Lyonel Feininger (1871–1956) sattsam zu kennen, so versichere ich, nein, vermutlich nicht. Nicht so.
Die Schirn beschränkt sich nicht auf Gemälde, die ihn berühmt gemacht haben, in denen er aus »farbigen Silhouetten Bilder aufbaut«. Sie durchstreift alle seine künstlerischen Epochen, sein ganzes Leben sozusagen. Lyonel Feininger war ganz Kind seiner – stürmischen – Zeit, im Umbruch, im Aufbruch, im Ungewissen, und ihn trägt eine sehr lange und ein bisschen umwegige künstlerische Biografie.
Zunächst einmal werden die Besucher*innen von einem unbeschwert lächelnden Lyonel Feininger selbst begrüßt, wie er da am Strand von Deep an der Ostsee 1927 posiert, auf einem Bein balanciert und mit einen zusammengeklappten Regenschirm in die Luft stochert. Sehr leichtfüßig und traumtänzerisch das Ganze. Da hatte er schon zwei Karrieren hinter sich.
Die erste begann er in Berlin als Karikaturist 1889, die damals die bedeutsamste und größte Zeitungsstadt der Welt war mit einer Fülle satirischer und politischer Blätter – ein sehr fruchtbares Feld. Später dann holte ihn Walter Gropius an das Bauhaus in Dessau. Mit seinen kristallinen Strukturen schuf Feininger das leitmotivische Sinnbild der neuen politischen Transparenz. Verschiebungen der Perspektive, Licht, Entrümpelung der Strukturen, Reinheit der Form, Purismus der Linien. Ganz wunderbar repräsentierte er die Künstler-und Intellektuellenszene Berlins der 1910 und -20er Jahre.
Vorstudien geleiten in der Ausstellung zu seinem Selbstbildnis mit stechendem Blick aus smaragdgrünen Augen, prismenhaft verzerrten Gesichtszügen vor einem gotischen Bogen. Es folgen beispielhafte Karikaturen aus verschiedenen Medien, die u.a. den ersten Weltkrieg thematisieren. Feininger war US-Amerikaner, lebte aber in Deutschland.
Die zweite Überraschung dürften die Mummenschanz- oder Karnevalsbilder sein, die zwischen 1907 und 1911 entstanden sind. Die Perspektive kippt, die stark komödiantisch stilisierten Figuren rutschen förmlich aus dem Rahmen – der Karikaturist blitzt durch jeden Winkel. Atmosphärisch schwebt da ein bisschen Robert Delaunay in der Luft, aber auch überraschenderweise Toulouse-Lautrec, besonders in seinem 1912 gemalten »Boulevard« mit Damen im Cul de Paris. Die Farben sind bunt, aber gebrochen, gelb, rosa, pistaziengrün, türkis. Märchenhaft-Melancholisches verbindet sich mit purem Expressionismus.
Dass ein kleines thüringisches Dorf namens Gelmeroda die Ausstrahlung von New York haben kann, gehört zu den unbeschreiblichen Perspektiven eines Lyonel Feininger. Erstmals als Ensemble präsentiert die Schirn hier fünf Gemälde und unzählige Skizzen zu Gelmeroda, die er zwischen 1910 und 1955 schuf. Hier kann man dem Künstler buchstäblich beim Denken zusehen. Als Einführung gilt eine schlichte Schwarzweißfotografie des Gelmeroder Kirchleins, nichts Spektakuläres, aber mit einem auffallend hohen spitzen Turm, das seine Fantasie zu seinen bekanntesten Signatur-Gemälden anstiftete: Zersplitterte Prismen, übereinander gelegte Strukturen, die an Hochhausschluchten seiner Heimatstadt erinnern, mit winzigen Figuren darin, prozessionsartig aufgereiht. Innerhalb jedes Bildes wechselt die Perspektive mehrfach, und gerade Linien scheinen aus den Bildern zu kippen. Es ist, als würde das Moment der Zeit darin eingefroren.
Relativ neu ist die Entdeckung Feiningers als Fotograf. Mehr als 20.000 Foto-Objekte sind in seinem Nachlass enthalten. Eines seiner Lieblingsmotive: das Bauhaus in Dessau, beim Schneefall, meistens nachts. Die architektonischen Strukturen, die gerundeten Balkone, die Fensterbänder werden auf diesen Nachtaufnahmen von Straßenlaternen nur punktuell beleuchtet. Er hat auch experimentiert, das Fehlerhaft-Spontane zur Kunst erklärt.
Als Spielzeugbauer kennt man Feininger eigentlich auch nicht unbedingt, aber hier ist das schrullige Arsenal seiner Mummenschanzbilder wieder versammelt, seine karikaturhaften Mini-Menschen, die schiefen kleinen Häuschen und Brücken, aus der »Stadt am Ende der Welt« (1925–1955), die es auch als Zeichnung aus dem Jahr 1910 gibt und die ein bisschen so aussieht wie der Römerberg Frankfurts – es aber nicht ist.
In seinem Spätwerk dann scheinen die Strukturen sich aufzulösen, zu verblassen, zu verschwinden. Doch seine Motive waren immer da, waren immer bei ihm, und er hat sie unendlich oft variiert.

Susanne Asal
Foto: Der weiße Mann, 1907, Öl auf Leinwand © Carmen Thyssen Collection, Madrid and Museo Nacional Thyssen-Bornemsiza, Madrid / VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Bis zum 18.Februar 2024: Di., Fr.–So., 10–19 Uhr; Mi., Do., 10–22 Uhr
www.schirn.de

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