Siebzig Jahre, das ist lange her. 1954 sind »Die Mandarins von Paris« erstmals erschienen. Simone de Beauvoir hatte eine Heidenangst vor der öffentlichen Reaktion. Mit ihrer Studie »Das andere Geschlecht«, 1949, hatte sie eine bemerkenswerte Entrüstung ausgelöst. Sogar der Vatikan mischte mit und zeigte sich entgeistert und setzte das Buch auf den Index, was, wie immer in solchen Fällen, erheblich zu seinem Erfolg beitrug. Francois Mauriac, immerhin Nobelpreisträger, schrieb anerkennend: die Autorin habe »buchstäblich die Grenze des Erbärmlichen erreicht« und nun wisse er alles über ihre »Vagina«. Und dann, fünf Jahre danach? Ein Liebesroman mit wieder detaillierten Beschreibungen »körperlicher Vereinigung«. (Darüber hat sich aber nur noch das leicht erkennbare Vorbild des Geliebten der Erzählerin, dem auch das Buch gewidmet war, folgenlos aufgeregt.) Es wurde aber sofort als Schlüsselroman begriffen. Es kursierten Listen mit den Klar-Namen des Personals aus der Pariser Intellektuellen-Szene. Auch, aber nicht nur deshalb, machten »Die Mandarins von Paris« mächtig Furore. Und, überraschend für die Autorin, folgte noch der Prix Goncourt, 1954. Vor siebzig Jahren also. Das ist lange her.
Originale bleiben (oder sie verschwinden halt). Übersetzungen hingegen altern. Deshalb gibt es bei den »großen« Büchern der Literaturgeschichte mit einigem zeitlichen Abstand immer mal wieder neue Übersetzungen. So auch bei Beauvoirs (vermeintlichem) Schlüsselroman, der Ende 1944 mit dem Rückzug der deutschen Truppen aus Paris einsetzt und vor allem die ersten Nachkriegsjahre in Frankreich beschreibt, die erbitterten Diskussionen der Linken über ihr Verhältnis zur stalinistischen Sowjetunion, die Nachwirkungen der deutschen Besatzung, Kollaboration, Verrat und Widerstand. Und, nicht minder intensiv, die intimen Verhältnisse innerhalb der Pariser Intellektuellenszene selbst, und dann auch noch Einblicke in das Amerika der ersten Nachkriegsjahre zeigt.
Alice Schwarzer hat vor einigen Jahren (DIE ZEIT, 19.7.2012) eine wunderbare Aufstellung präsentiert, nach dem Motto: der ist der und die ist die, Sartre, Camus etc. Was ebenso richtig wie falsch ist und uns heute, siebzig Jahre später, nur noch wenig hilft. Die Entschlüsselung des Personals war seinerzeit sicher ein reizvoller Nebeneffekt. Die gegenwärtige Aktualität der »Mandarins« liegt aber im Gegenteil darin, dass uns de Beauvoir Geschichte erzählt, unsere, die europäische Nachkriegsgeschichte. Und der Reiz liegt darin, dass sie verwoben ist mit dem Schicksal einiger Personen, die damals unsere Geschichte geprägt haben, die damals versucht haben, den Lauf der Geschichte zu ändern, und die, wie sie erfahren mussten, damit gescheitert sind. Sie wollten Weichen stellen, aber der Zug war bereits abgefahren.
»Die Mandarins« sind natürlich ein politischer Roman. Aber eben nicht nur. Sie erzählen auch die Geschichte dieser Frau, der Psychoanalytikerin Anne Dubreuilh, hinter der sich, gut erkennbar, die Autorin selbst versteckt. Sie ist in Paris verheiratet, aber in Chicago in den amerikanischen Schriftsteller Lewis Brogan verliebt. Über einige Jahre hinweg verbringt sie immer einige Monate mit bzw. bei ihm in Amerika. Vorbild für diese Figur, war der amerikanische Schriftsteller Nelson Algren. Simone de Beauvoir hat daraus nie ein Geheimnis gemacht und ihm sogar »Die Mandarins« gewidmet (was Algren allerdings gar nicht goutieren konnte; er blieb für alle Zeiten stocksauer, und hat doch, nüchtern betrachtet, sein literarisches Überleben vor allem seiner einstigen Geliebten zu verdanken).
Politische Hoffnungen gehen ebenso in die Brüche wie die persönlichen Erwartungen. Der Stalinismus hatte noch die letzten Illusionen zerstört. Und so verknüpfen sich hier die historischen Ereignisse mit den persönlichen Entwicklungen. »Die Mandarins« sind heute endgültig zu einem historischen Roman geworden, der in einer historisch gewordenen Umgebung spielt: in den Pariser Cafés und Bars, auf den Pariser Boulevards, in den Pariser Redaktionsstuben und zu Teilen eben auch im Amerika nach dem Ende des Krieges.
Die ausführlichen Diskussionen, die de Beauvoirs Protagonisten miteinander führen, die erbitterten Kämpfe, die sie sich liefern, die Verletzungen, die sie sich zufügen, die Affären, die sie sich gestatten (oder krumm nehmen), all das erweist sich erstaunlich wenig als zeitgebunden. Deutliche Bezüge zur Gegenwart lassen sich fraglos herstellen. Weil es immer auch um politische und um persönliche Moral geht, um richtiges Verhalten. Dabei sind die Zeitumstände paradoxerweise ebenso prägend wie bedeutungslos. Das Buch lässt sich mithin als ein Geschichtsbuch lesen. Aber es bleibt doch ein Roman, leidenschaftlich, faszinierend und, schlicht gesagt, auch packend. Es sind grandiose Gestalten, die hier agieren.
Das Buch erzählt von dem großen Versprechen, das mit dem Sieg über den Faschismus und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, aufschien. Und es erzählt von der gründlichen Desillusionierung, die schon bald darauf folgte. Wobei hier Walter Benjamin das letzte Wort haben sollte: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.« In den »Mandarins von Paris« ist sie aufbewahrt.