Sohrab Shahid Saless: »Film im Kopf«

Die Geschichte des neuen deutschen Films ist ohne ihn kaum vorstellbar: Sohrab Shahid Saless. Ein radikaler Filmemacher, höchstens mit Rainer Werner Fassbinder zu vergleichen, den er merkwürdigerweise nicht ausstehen konnte. Zugleich aber ist Saless auch ein ganz und gar einzelner, einer, der sein ganz eigenes filmisches Universum schuf. Ein Beobachter mehr als ein Erzähler. Einer, der Filme über eine Welt machte, in der fast nichts und niemand zu retten ist. Aus einer ganz direkten, sehr präzisen Auseinandersetzung mit der alltäglichen Wirklichkeit heraus entstanden Portraits von »normalen Menschen«, und die muss man nur genau genug ansehen um zu erkennen, dass es so etwas wie das Normale nicht gibt. Sohrab Shahid Saless hat dort hingeschaut, wo sonst keiner hinschaut, ins allernächste. In die Fremdheit des Menschen in seiner Welt, in die verzweifelten Versuche, in der Liebe oder in der Familie einen Halt zu finden. Und er tat das in einer Mischung von dokumentarischer Leidenschaft und Poesie. Das erste haben die meisten Zuschauer und Zuschauerinnen bewundert. Das zweite blieb manchmal verborgen. Saless’ Filme sind so traurig, dass man kaum bemerkt, dass sie auch schön sind.

Es ist die Wirklichkeit eines türkischen Arbeiters in Deutschland, zwischen Fabrik und Einsamkeit, Lärm und Stille: „In der Fremde“ (1974). Es ist die Wirklichkeit eines achtjährigen Jungen, dessen Mutter den Lebensunterhalt als Prostituierte beschafft: »Reifezeit« (1975).  Und dann in »Utopia« auch eine Gegenwelt: Die Frauen eines Bordells erheben sich gegen ihren Zuhälter und Ausbeuter. Aber danach führen sie nur sein System weiter. So schrecklich und ausweglos; eine große Negation, und das zu einer Zeit, 1983, da noch längst nicht alle Hoffnungen erloschen sind. Anton Tschechow war sein Bezugspunkt, dem er einen biographischen Essay-Film widmete und dessen »Der Weidenbaum« er 1984 verfilmte. Auch einer, dem sich die Endspiele so paradox ins Unendliche dehnen. Ein klein wenig erscheint dieser Film schon als Endpunkt für die Studien über den Alltag von einsamen Menschen. In seinen letzten Filmen taucht Saless, in »Wechselbalg« (1987) und »Rosen für Afrika« (1990), noch einmal in die Höllen auswegloser Beziehungen und Familien. Wie vieles davon mag seiner eigenen Erfahrung als Ver- und Getriebener und mit einer Kindheit in zerbrochener Familie und mit Eltern ohne Liebe entsprechen? Insbesondere die problematischen Mutterfiguren in seinen Filmen führen auf die Spuren einer schwierigen Biographie. Bei seinem letzten Film, da war wohl sein steter Kampf mit den Produktionsproblemen und vielleicht auch mit den eigenen Dämonen schon verloren. »Grabbes letzter Sommer« (1980) ist das Endspiel eines gescheiterten Dichters, und Bert Schmidt sieht darin eine Vorahnung von Saless’ eigenem Schicksal.

Bert Schmidt hat ein sehr schönes, sehr intimes Buch über Saless veröffentlicht, keine kritische Monographie, kein »Leben und Werk«, sondern oft sehr persönliche Erinnerungen an gemeinsame Dreharbeiten, Episoden am Rande, Überlegungen und Reflexionen des Regisseurs und einiger seiner Begleiter. Es ist randvoll mit Bildern, neben Film-Stills Fotografien, die bei den Dreharbeiten oder auf Reisen, etwa zu Filmfesten, entstanden. Dieses Buch »liest« man am besten wie wenn man einen Film sieht, einen respekt- und liebevollen Film, der gleichwohl die dunkleren Seiten des Regisseurs nicht verschweigt, seine Despotie, seine »Monomanie«, die stetigen Streitigkeiten am Set und in der Post-Produktion. Schmidts Buch über Sohrab Shahid Saless ist auch ein Buch über das Filmemachen. Und wie es beim Filmemachen so ist, da gibt es Triviales, Persönliches, Zufälliges – erst hinterher erweist sich, was davon für den Film wirklich wichtig war.

Die meisten Filme von Saless entstanden in Zusammenarbeit mit dem deutschen Fernsehen, das in den siebziger und achtziger Jahren kaum vergleichbar war mit dem, was wir heute kennen. Dass Filme wie die seinen, die weiter entfernt von einem Feelgood-Movie oder einer Genre-Übung nicht gedacht werden können, überhaupt entstehen konnten, und dass sie sogar zu durchaus passablen Sendezeiten programmiert wurden, wirkt im Nachhinein wie ein kleines Wunder. Und doch waren, wie wir dem Buch entnehmen können, diese Produktionen auch Kämpfe. Nicht alle wurden gewonnen; »Hans, ein Junge aus Deutschland« wurde nach Eingriffen der Produktion ohne Nennung des Regisseurs-Namen ausgestrahlt.

Was die iranische, die deutsche und schließlich die amerikanische Erfahrung miteinander verbindet, ist der einsame Mensch in einem Machtgefüge, gegen das niemand eine wirkliche Chance hat. »Wir alle leben mit einer Vorstellung von Utopia, aber diese Utopie erweist sich als die Hölle, beherrscht von Despoten. Wird ein Despot beseitigt, kommt schon der nächste (einer von uns!) Und übernimmt das Kommando« so Bert Schmidt zu »Utopia«, aber es ist wohl der Kern von Saless’ Sicht auf die Welt. Konsequenter hat wohl kaum einer das »Happy Ending« verweigert. In seinem Film »Empfänger Unbekannt« (1983) wird die Vernichtung der Juden in der Zeit des Nazi-Regimes ganz direkt mit der Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart zusammen geschnitten. Dazu gibt es die Geschichte einer Frau, die ihren deutschen Mann verlassen hat und mit einem arbeitslosen türkischen Architekten zusammen lebt und am Ende, statt in das bürgerliche Leben zurückzukehren Selbstmord begeht. Und in »Hans, ein Junge aus Deutschland« lässt er seinen Helden, einen jüdischen Jungen, die Nazi-Zeit überleben, aber danach erhält seine Mutter immer noch Droh- und Hassschreiben, und die sehen 1985 genau so aus wie sie 1950 womöglich ausgesehen haben und wie sie heute aussehen. Sohrab Shahid Saless’ Deutschland-Filme aus den siebziger und achtziger Jahren sehen aus, als hätte vor einem halben Jahrhundert jemand einen Zukunftsblick in unsere Gegenwart getan.

Aber Deutschland sollte nicht das Ende seiner eigenen Reise sein. Sohrab Shahid Saless übersiedelte in die USA. Die Nachricht von seinem Tod erreichte uns 1998 aus der Ferne.

Georg Seeßlen
Bert Schmidt: Sohrab Shahid Saless – Film im Kopf. Belleville, München. 220 Seiten, mit vielen Schwarz/weiß- und Farb-Abbildungen, 24 €.

 

 

 

 

 

 

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