Tja, worauf kommt es an im Leben und überhaupt? Spielt es eine Rolle, wo ich oder meine Familie herkommen? Die Darstellerin und Autorin Liora Hilb ist in Tel Aviv geboren, ihre Bühnenpartnerin und Akkordeonistin Beate Jatzkowski in Polen, beide leben jetzt in Frankfurt am Main, verraten sie gleich zu Beginn der Vorstellung von »All That matters« im Theaterhaus. Bestimmt haben auch die Eltern oder Großeltern vieler der Kinder im Publikum nicht schon immer in Frankfurt gelebt und könnten Geschichten erzählen. Wie die Geschichte von Vera Diamantova, um deren Schicksal es in »All that matters« geht, eine für Liora Hilbs Theaterprojekt La Senty Menti verfasste Adaption ihrer Memoiren (»Pearls of Childhood«),
Worauf es ankommt, das wusste der englische Banker und Broker Nicholas Winton nach der Okkupation der Tschechoslowakei im März 1939. Mit Freunden und Helfern in Prag sowie der Unterstützung englischer Familien gelang es ihm noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 669 Kinder jüdischer Herkunft durch die Organisation von Kindertransporten nach England zu bringen und vor der Verschleppung in deutsche Vernichtungslager zu bewahren.
Vera Diamantova aus Prag gehörte mit ihrer Schwester Ewa zu ihnen, als sie im Alter mit elf Jahren auf Drängen ihrer Mutter – und gegen die Überzeugung ihres Vaters, der die Nazis nicht so wichtig nimmt – nach England kommt und dort in einer britischen Familie aufwächst. Ihre Eindrücke zeichnet sie in ihrem Tagebuch auf, das nun auf der Bühne durch lebensgroße, von Leonore Poth entworfene Pappfiguren zum Leben erwacht. Die Eltern, der Polizist, ein Grenzbeamter, die Lehrerin, der Hund, ihre neue Mommy Rainford, der Retter Nicholas Winton sind dabei, sowie als einzig bunte Figur natürlich Vera selbst. Auf der halbdunklen Bühne von Natalia Haagen werden diese Figuren von Liora Hilb und Beate Jatzkowski bewegt.
Wird Vera es schaffen, über die Grenze zu kommen, auch wenn wichtige Stempel auf den Ausreisepapieren fehlen? Wer hat mich eigentlich gerettet, so wird sie sich als spätere Mrs. Gissing fragen, wer hat all diesen Kindern die notwendigen Dokumente verschafft? Und wie gelingt es ihr, sich in der neuen Freiheit und dem ungewohnten englischen Lebensgefühl zurechtzufinden? Bleibt der Himmel so blau wie er in den kleinen Filmsequenzen, die in der Bühnenmitte auf einem Bildschirm aufflackern zunächst gezeigt wird? Oder kann er sich auch verdüstern? Dieser kleine Bildschirm ist das Fenster zur Welt. Bei der dreitägigen Fahrt nach England durch Deutschland und Holland ziehen Berge, Landschaften, Häuser am Zugfenster vorbei – und erinnern an eigene kindliche Eisenbahnfahrten.
Die Spannung steigt, als eine Grenzkontrolle fehlende Stempel auf den Ausweispapieren bemerkt. Nicholas Winton, der die Fahrt persönlich begleitet, versorgt den Nazikontrolleur – eine beeindruckend angstmachende Figur – mit Schnaps und, ja, Schmiergeld. Die rettende Fahrt kann fortgesetzt werden! Auch wenn das englische Frühstück für Vera eher gewöhnungsbedürftig sein wird, gerät sie bei der lebensfrohen Mommy Rainford in gute Hände.
Das Motto des Stückes stammt aus ihrem Tagebuch: »Hoffnung ist wie eine Flamme. In einem Moment ist sie stark, im nächsten ist sie fast erloschen. Aber es bleibt immer ein Funke übrig«. Und dieser Funke, das ist es, worauf es ankommt.
Günther Henne, der zum Ensemble des Theaterhauses gehört, führt die Regie, Beate Jatzkowski setzt über das gemeinsame Spiel mit Liora Hilb hinaus die wechselnden Stimmungslagen großartig und einfühlsam mit ihrem Akkordeon um. Ein großartiges beeindruckendes Stück nicht nur für Kinder ab neun Jahren.
Katrin Swoboda / Foto: Katrin Schander
Termine: 16. März, 18 Uhr; 17. März, 11 Uhr und 18.–21. März, 10 Uhr.
www.theaterhaus-frankfurt.de
Infos zum Stück
97 Jahre alt ist Vera Gissing-Diamantova geworden, dank des Einsatzes von Nicholas Winton, der 106 Jahre alt wurde. 1988 lernten sich die beiden noch persönlich durch eine TV-Sendung kennen, nachdem Wintons Frau auf dem Dachboden einen Karton mit Dokumenten – Fotos, Listen, Namen von jüdischen Kindern, Visaanträge und mehr – entdeckt und veröffentlicht hatte. Für ihre berührende Geschichte hat Liora Hilbs Theater »La Senty Menti« den »Karfunkel«, den Kinder- und Jugendtheaterpreis 2024 der Stadt Frankfurt bekommen – zum zweiten Mal nach »Remembering« (2017) (Strandgut 4/2018).
Vier Hinweise zum Thema: 1. Das English Theatre führt das Stück »Kindertransport« von Diane Samuels (Strandgut 12/2023) im Repertoire; 2. die Skulptur »Das Waisen-Karussell« von Yael Bartana an der Ecke Kaiserstraße/Gallusanlage; 3. das zu einer Ausstellung der Deutschen Nationalbibliothek erschienene Buch »Childemigration from Frankfurt am Main« (Wallstein-Verlag 2021); 4. die dem Reichsbahn-Mitarbeiter Fritz Kittel gewidmete Ausstellung im Museum der Deutschen Bahn.