Burkhard Spinnens neuer Roman »Vorkriegsleben«
Wumms! – hat es gemacht, 1994 schon. Mit seinen Geschichten »Kalte Ente« war er plötzlich da, eine neue Stimme in unserer Gegenwartsliteratur. Realistisch, komisch, prägnant. Seitdem hat er viel geschrieben, hat als Dozent am Leipziger Literaturinstitut anderen das Schreiben beigebracht. Nie Bestseller, doch immer wichtige Darstellungen unserer gegenwärtigen Lebens-, Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnisse. Es sind die alltäglichen Verhältnisse, für die sich Spinnen interessiert. Und paradoxerweise gelingt es ihm, daraus Spannung zu erzeugen.
Richard Morjan, Ende fünfzig, hatte vor dreißig Jahren auf einem Sommerfest der Betriebswirtschaftler in Hannover, Andrea kennengelernt. Ein paar Jahre später heiraten sie, geben ihr Studium auf und übernehmen die Speditionsfirma von ihren Eltern. Sie führen eine unspektakuläre, friedliche Ehe, bekommen ein Kind, Sophia. Als Sophia sechs ist, verlässt Andrea mit ihr, ohne irgendeine Vorankündigung, ihren Mann. Sie ist – und bleibt – spurlos verschwunden. Er arrangiert sich mit dieser Situation, gibt aber zum frühestmöglichen Zeitpunkt das Geschäft auf.
Doch just an dem Tag, an dem Morjan die Spedition verkaufen und sich zur Ruhe setzen will, steckt ihm, an einer Imbissbude, ein junger Mann einen Zettel zu: »Ich hab da was für Sie.« Als Morjan die Internetadresse eingibt, sieht er einen kurzen Videoclip. Richard Morjan, wie er sieben oder achtjährig in die Schule geht. Ab da erhält er, dann gegen Bezahlung, weitere Filmchen und Fotos aus seiner Vergangenheit. Er wird so erinnert an seine einstigen Ambitionen. Seine eigentliche Leidenschaft als Schüler war die Kunst. Sein Kunstlehrer erkannte das sehr schnell und unterstützte ihn bei der Bewerbung an die Hamburger Kunstakademie. Die Eltern, kleinbürgerlich und eher uninteressiert an seinem Leben, waren gegen »diese brotlose Kunst«.
Das Buch umfasst einen Zeitraum von genau sechs Wochen. Es beginnt am Montag, den 14. Februar 2022 und endet am 1. Mai. Durch Rückblenden wird das gesamte Leben von Richard Morjan aufgeblättert. Ein raffiniertes Verfahren.
Morjan war ein unauffälliger Junge und später junger Mann. Sein Leben plätscherte so dahin. Allerdings spielen Frauen eine große Rolle und meist haben sie keine gute Meinung von ihm. Barbara hält ihn für »stumpf und verbohrt«, Nora »für eine Tasse ohne Henkel«, Rena hat ihm »einen gefährlichen Hang zur Oberflächlichkeit« attestiert, seine Frau Andrea meinte, »dass er sich immer nur in Sicherheit bringen wollte«.
Als »Rentner« muss er plötzlich wieder eine neue Situation bewältigen. Er wird gebeten, eine geflüchtete Ukrainerin mit ihren beiden kleinen Zwillingstöchtern aufzunehmen. Er bringt sie in seinem großen Haus unter, doch nach ein paar Wochen sind sie wieder verschwunden. Für Burkhard Spinnen sind solche Krisen und die Lösungen, die sich ergeben (oder auch nicht), ein immer wiederkehrendes Thema. »Vorkriegsleben« ist in die unmittelbare Gegenwart eingelassen. Die Corona-Pandemie spielt eine Rolle und ebenso, noch direkter, der russische Krieg gegen die Ukraine. Wie gehen Menschen mit dem Ende von Gewissheiten um, wie bewältigen sie Zeitenwenden. In Morjans Leben gibt ihm nur seine weiße Pudelhündin Sicherheit. Sie ist immer da, eine verlässliche Partnerin, die ihn versteht und ihm Halt gibt. Er lässt sich von einem Unbekannten erpressen, weil er spürt, die Videos decken etwas auf oder erklären vielleicht Dinge aus seinem früheren Leben, die er nie wusste oder vergessen hat. Er wird erfahren, warum er Spediteur wurde und kein bedeutender Künstler, warum ihn Andrea verließ und auch, wie die Fotos und Videos entstanden und wer der Erpresser ist. Spinnen versteht es, die Spannung gut zu dosieren. Sein neuer Gesellschaftsroman hat Zug. Rückwirkend erklärt die Gegenwart ihre Vergangenheit.
Zusammenfassend gesagt: Spinnen lesen – macht Spaß und macht klüger.