Das, was man hat, schätzt man nie genug, und das trifft auf das Neue Frankfurt leider auch zu. Manche wissen nicht einmal, sagt Kuratorin Grit Werber, welch impulsreicher Schatz da in Frankfurts Schoss ruht. »Das Neue Frankfurt« sei nach dem Verdikt des Historikers Heinrich August Winkler eines der großen Laboratorien der klassischen Moderne gewesen. Die blanken Buchstaben jedoch können kaum wiedergeben, welcher Aufbruch in ihnen steckt, der bis zum heutigen Tag architektonische und gesellschaftspolitische Richtlinien formuliert hat und immer noch formulieren sollte.
Worum ging es genau zum Beginn der 1920er Jahre und dem »Neuen Frankfurt«? Die alte Welt lag in Trümmern, der erste Weltkrieg hatte in jeder Hinsicht zu Verheerungen geführt und die Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung drückend erschwert. Die Notwendigkeit einer Neuorientierung umfasste alle gesellschaftlichen Schichten und Bereiche, und tatsächlich gab es in diesem ersten Nachkriegsjahrzehnt einen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aufbruch wie nie zuvor und danach auch nie wieder. Vielleicht vollzogen sich vom Effekt her die 1968er Jahre in gewissen Bereichen ähnlich radikal, aber eben nur in gewissen Bereichen.
In Frankfurt – und nicht nur dort – begann im Jahr 1925 die Stadt mit formelhaften neuen Wohnungsbauprogrammen, die sich vom Gewesenen insofern stark distanzierten, indem sie Räume und Häuser für die »kleinen Leute« schaffen wollten, saubere, hygienische, helle Unterkünfte mit viel Grün drum herum, das als Wirtschaftsgarten und/oder Erholungswiese genutzt werden konnte. Es geschah wie aus dem Nichts: Das Neue Frankfurt, initiiert vom später von den Nazis vertriebenen und eines Hungertodes gestorbenen Oberbürgermeister Ludwig Landmann und dessen visionärem Stadtbaurat Ernst May. Innerhalb von nur fünf Jahren entstanden mehrere Siedlungen mit insgesamt 12.000 Wohnungen, öffentlichen Gebäuden und Grünflächen. Die Neubauten entstanden direkt auf der »grünen Wiese«, z.B. die Siedlung Römerstadt, oder wie außerhalb des Zentrums die Siedlungen Westhausen, Sachsenhausen und Bornheimer Hang. Hier stand die Wiege des unkomplizierten Fertigbaus.
100 Jahre Neues Frankfurt – das Programm
Dieses Jubiläum wird vielfältig begangen. Im Museum für Angewandte Kunst hat die Doppelausstellung begonnen, sie wird begleitet von einem über Monate hinweg immer überraschend frisch bestücktem Veranstaltungsprogramm mit Führungen und Filmen. Das Deutsche Architekturmuseum verweist mit gleich drei Ausstellungen auf das Erbe in unterschiedlichen Gewichtungen: die Grundsatzfragen des Bauens von städtischen Quartieren heute. Das Stadtlabor des Historischen Museums thematisiert in einer Sonderausstellung »Alle Tage Wohnungsfrage. Vom Privatisieren, Sanieren und Protestieren«. (ab 18. Juni).
Der vielfach prämierte Architekt D.W. Dreysse und Astrid Wuttke, Leiterin des Bereiches Weiterbauen des Architekturbüros Schneider/Schumacher, Frankfurt, diskutieren am 16. September im Haus am Dom den Aspekt »Vom Neuen Frankfurt lernen. Ein Blick nach vorn«.
Besondere Stimmung versprechen die nach historischen Vorbildern veranstalteten Lampionfesten die in den einzelnen Siedlungen gefeiert werden. Auftakt macht die Hellerhofsiedlung im Gallus am 13.September. Das mayfest in der May-Siedlung in Praunheim am 24. August wird ebenfalls mit Lampions geschmückt sein.
Das ist nur eine Winzigkeit des umfangreichen Programmes: Auf der Liste stehen Sportfeste, Performances, Lesungen.
Infos unter www.neuesfrankfurt100.de
Es geschah aber noch viel mehr als das platzsparende Häuserbauen mit vorgefertigten Bauteilen aus Bimsbetonplatten und Ziegeln und strategisch durchgeplanter Innenausstattung, wo die Betten auch gerne mal unter einem Kasten zu verschwinden hatten, das Bügelbrett in der Türwand hing und Vorratsschütten im Wandschrank. Es ging darum, eine neue demokratische Gesellschaft zu formen, soziale Räume für Begegnungen zu schaffen, den Gedanken des Miteinanders einzupflanzen und zu pflegen, kurz gesagt, um das Gemeinwohl. Auf diesem gesellschaftspolitischen Fundament sollte das Neue Bauen ruhen. Dass sich eine Stadt, eine Regierung, eine Kommune explizit dafür verantwortlich erklärte – das ist tatsächlich keine Märchenstunde. Städtische Schulgebäude, ein Altenheim (das Henry und Emma Budge-Heim), die Großmarkthalle, der Ostpark, das Waldstadion – dies alles ist in dieser Zeit angelegt und gebaut worden. Die Pickelhaubenästhetik war nun endgültig passé, auch in der Inneneinrichtung. Das Mobiliar, Lampen, Stühle, Tische – die neue Mode, Kunst und Gebrauchsgegenstände wiesen schnörkellos und emanzipiert in die Zukunft. Bauhaus stand Pate.
Grit Weber hat im MAK ein didaktisch ausgelegtes Konzept umgesetzt, das für den ersten Teil der Ausstellung »Was war das Neue Frankfurt?« 16 Rauminseln umfasst, die in luftig-leichten Holzgestellen Materialien zum vertiefenden Kennenlernen dieses Jahrhundert-Projekts versammeln. 16 wichtige Fragen werfen ihre Schlaglichter auf die Bewegung: wer waren die Protagonist*innen, wie wurde finanziert, wie wurde gebaut, gestaltet, mit welchen Materialien, wie wirkte sich das neue Wohnen auf das Alltagsleben aus? Welche Philosophie steckte dahinter? Mit Fotos, kleinen Dokumentarfilmen, Texttafeln und erklärenden Videos erschafft sich dieses Projekt noch einmal ganz spannend neu.
Der Gang zum zweiten Raum ist weniger erfreulich, konfrontiert er doch mit ungeschönten Zahlen. Derzeit stehen in Frankfurt mehr Wohnflächen leer als im Neuen Frankfurt gebaut wurden. Die kommunale Wohnungsbaugesellschaft AGB lässt Gebäude verwahrlosen, Balkone unverputzt, wie Briefe der Mieter der Siedlungen Hellerhof und Platenstraße an Oberbürgermeister Mike Josef beklagen. Demgegenüber arbeitet die Schau präzise heraus, dass Gemeinwohl zum zentralen Ziel der Stadtplanungspolitik des Neuen Frankfurt wurde. Wo soziale Begegnungsräume schwinden, erstarkt Rechtsextremismus, hat eine Studie belegt.
Vermächtnis also, Vermächtnis gäbe es genug. Das Neue Frankfurt aus seinem musealen Kontext herauszulösen, das Konzept in die Gegenwart als sprudelnder Impulsgeber zu überführen, das will diese Ausstellung auf alle Fälle leisten.